Liebeslied für einen Fremden: Das Buch der Liebe (German Edition)
stellte ihr Vater daraufhin lakonisch fest. „Aber kannst du das nicht auch irgendwo hier in der Nähe machen? Nimm eine Auszeit, zieh dich in ein Kloster zurück oder geh den Jakobsweg – das ist ja jetzt modern – aber Seattle? Das halte ich für absurd, nicht nur, weil die Stadt nichts zu bieten hat außer schlechtem Wetter.“
„Das macht nichts“, sagte Kitty achselzuckend. „Ich bin ja nicht zu meinem Vergnügen dort, sondern um mir über mich selbst klar zu werden.“
Cornelius verstand die Welt nicht mehr.
Kitty blieb sechs Monate in Seattle und tat dort das, was sie für sich die „Rache der Verschmähten“ nannte: Sie hatte Sex mit jedem Mann, der ihr gefiel, um ihn anschließend ohne jede Erklärung nach Hause zu schicken. Es ging um weiter nichts als die Genugtuung darüber, dass sie nun diejenige war, die die Regie in dem Drama mit dem Titel LIEBE übernahm.
Dass sie dem Einen oder Anderen damit beinahe das Herz brach –jedenfalls ging mancher so weit, das zu behaupten – beeindruckte sie überhaupt nicht.
Nach einem halben Jahr kehrte sie nach Rostock zurück, reich an Erfahrungen und an Selbsterkenntnis und bot ihrem Vater an, zukünftig in seiner Firma mit zu arbeiten. Sie war nicht nur äußerlich erwachsen geworden, sondern auch innerlich gewachsen und dazu gehörte, dass sie wie alle anderen Menschen ihres Alters ihren Lebensunterhalt verdiente.
Mit den Männern, teilte sie ihrem Vater völlig sachlich mit, sei sie fertig. Für alle Zeiten.
Cornelius wollte ihr das nur zu gerne glauben, er hielt es eine Zeitlang sogar für möglich. Seine Kitty war zu allem fähig, sagte er sich.
Er hatte Recht. Kitty, die ab sofort nur noch Katharina gerufen werden wollte, war als eine völlig Andere aus Seattle zurückgekehrt. Sie hatte plötzlich eine Art, ihre Mitmenschen mit glasharten Augen anzusehen, ihre Stimme war nicht mehr die des Mädchens, sondern einer erwachsenen Frau. Sie hatte jenes kindliche nervöse Kichern abgelegt, das ihr Vater immer ein wenig irritierend fand, stattdessen lachte sie kaum noch, sondern war ernsthaft, sachlich, bedauerlicherweise jedoch auch ziemlich humorlos aus Seattle nach Rostock zurück gekommen.
Kitty brauchte vier Wochen, um sich in die Logistik des väterlichen Unternehmens einzuarbeiten. Obwohl Paul Cornelius seine Zweifel gehabt hatte, ob seine Tochter darüber hinaus durchhalten würde, überraschte sie ihn ein weiteres Mal, indem sie ihren täglichen Arbeitsalltag wortlos akzeptierte und so eine wirkliche Unterstützung für den Vater wurde.
Sie arbeitete ihm zu, wie Paul es nannte, und sie tat es erfolgreich. Zum ersten Mal gab sie ihrem Vater das Gefühl, stolz auf sie sein zu können, etwas, das er schon viel früher gerne gewesen wäre.
Cornelius registrierte also voller Wohlwollen die Veränderung seiner Tochter. Manches blieb ihm zwar daran rätselhaft, denn war es unbedingt notwendig, dass Kitty nach Feierabend an einem Yogakursus teilnahm, ihr Englisch an der Volkshochschule perfektionierte und sogar soweit ging, Seidenmalerei sowie Poetik an mehreren kreativen Wochenende zu lernen?
Als er seine Frau deswegen in Wismar anrief, erwiderte die lakonisch: „Du hörst dich an, als wäre unsere Tochter schwer krank, Paul. Katharina befindet sich in ihrer Selbstfindungsphase. Die hatten wir ja alle mal. Nein, du nicht, Paul. Du hast dich nie selbst gefunden. Allerdings hast du auch nie wirklich gesucht, wahrscheinlich, weil du Angst vor dem Ergebnis hattest. – Lass das Kind in Ruhe erwachsen werden. Du wirst ihr eines Tages dankbar dafür sein.“
Cornelius wusste mit dem Begriff „Selbstfindung“ nichts anzufangen, und weil seine Frau ihn gut genug kannte, um das zu wissen, fügte sie ironisch hinzu: „Mach dir keine Sorgen, Paul, das ist nicht ansteckend. Es geht vorbei, so, wie alles vorbei geht.“
„Es wäre mir lieber, sie würde wie früher nachts um die Häuser ziehen und mit irgendeinem netten jungen Mann in die Kiste…“
„Paul!“ wurde seine Frau streng. „Du redest von unserer Tochter, nicht von irgendeinem beliebigen Flittchen.“
Kitty, von ihm ebenfalls irgendwann auf ihr so total verändertes Leben angesprochen, hörte ihm zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. Sie begriff nicht sofort, was ihr Vater ihr eigentlich sagen wollte, hörte aber immerhin die Besorgnis aus seiner Stimme heraus und meinte schließlich belustigt, als er alles gesagt hatte, was – wie er meinte – gesagt werden musste:
„Ach,
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