Liebesnächte in der Taiga
dieses Nest?«
»Südlich von uns, Genosse. Hier.« Marfa Babkinskaja legte ihren manikürten Finger auf eine Stelle der an der Wand hängenden Gebietskarte. Dort war dichter Wald eingezeichnet, urweltliche Taiga, und an einem dünnen Schienenstrang ein Punkt mit dem Namen Mulatschka. »Es führt keine Straße hin. Aber zwei große Holzlager sind dort. Es fällt nicht auf, wenn Sie als Kontrolleur mit einem Hubschrauber landen.«
So wurde es gemacht. Karpuschin flog in das Taigadorf, landete neben dem Lager, brüllte den Natschalnik an, alles sei ein Sauhaufen und er käme in einer Stunde wieder, um die Hölle einzuheizen, erkundigte sich nach Dr. Pluchin und ließ sich mit einem Pferdeschlitten in das Dorf fahren.
Dr. Boris Antonowitsch Pluchin war zu Hause, aber er lag auf der Ofenbank, hatte einen hochroten, fiebrigen Kopf, glänzende, starre Augen, und sein Atem röchelte und pfiff aus der schmalen Brust. Sein Gelehrtenkopf lag auf einem alten Kissen aus Gänsefedern und einem Samtbezug, und der verwaschene Buntdruck auf dem Samt zeigte das Winterpalais von St. Petersburg, das herrliche Schloß des Zaren, wo Pluchin in seiner Kindheit so glücklich gewesen war.
»Sind Sie Dr. Pluchin, Genosse?« fragte Karpuschin, zog mit dem Fuß einen Stuhl heran und setzte sich neben den Kranken. Pluchin drehte den Kopf etwas zur Seite und starrte Karpuschin an.
»Behandlung fällt heute aus, Brüderchen«, sagte er mit schwerer Zunge. »Es tut mir leid … aber ich sterbe selbst …«
»Reden Sie keinen Unsinn, Pluchin! Ich weiß, daß Sie den Spion Semjonow und seine Frau, die verdammte Hure, beherbergt haben. Was wissen Sie von Semjonow?«
»Semjonow?« Dr. Pluchin blinzelte. »Ich habe den Namen nie gehört. Doch ja … ja … Von einem Semjonow gibt es eine geographische Beschreibung von Sibirien. Habe sie in Moskau auf der Universität gelesen, ohne zu ahnen, daß ich einmal selbst hier krepiere …«
»Lassen Sie das Theater, Pluchin.« Karpuschin packte den fieberheißen Arzt mit beiden Händen, hob ihn hoch wie ein Kätzchen und setzte ihn auf die Ofenbank. Es gab einen dumpfen, knackenden Laut, als habe sich Pluchin beim Aufsetzen den Steiß gebrochen.
»Was wissen Sie?« schrie Karpuschin den Arzt an. Dr. Pluchins Kopf sank nach hinten an die heißen Steine des gemauerten Ofens.
»Infiziert habe ich mich«, sagte der Arzt mühsam. »An einer Leiche, mein Lieber. Seziert habe ich sie, um festzustellen, woran der Kerl gestorben ist.«
»Was wissen Sie über Semjonow?« brüllte Karpuschin. Er schüttelte Pluchin wie einen Würfelbecher.
»Aber mich, Brüderchen, mich! Infiziert habe ich mich an der Leiche. Beim Einschneiden in das Brustbein … ritsch … das Messerchen rutschte aus und mir in den Mittelfinger. Sieh ihn dir an.« Pluchin hielt seine linke Hand hoch. Der Mittelfinger war dick aufgetrieben, gelb und glasig. Das schrecklichste aber war, daß Finger, Hand, Gelenk und Unterarm eine einzige, gleichförmige, geschwollene Masse bildeten, ein sichtbares Todesurteil. »So sieht der Tod aus, Brüderchen«, stammelte Dr. Pluchin und lehnte sich wieder gegen den heißen Ofen.
Dr. Pluchin schloß die Augen. Schüttelfröste durchjagten seinen schmalen Körper, er klapperte schaurig mit den Zähnen. »Gleich ist es vorbei!« rief er. »Begrabt mich neben dem Kerl, an dem ich mich geschnitten habe. Er liegt dort hinten auf dem Tisch …«
Der Arzt lag zusammengekrümmt vor dem Ofen auf den Dielen und hatte das Gesicht in das heruntergerissene Samtkissen vergraben. Das Kissen mit dem Bild von St. Petersburg. Karpuschin bückte sich, zögerte und drehte den Körper dann auf den Rücken.
Dr. Boris Antonowitsch Pluchin war tot.
Der Nachfolger Karpuschins im KGB, der verschlossene Beamte Oberst Bendarian, arbeitete wie eine Maschine.
Er ließ nach den Angaben, die vorlagen, von den besten Zeichnern Moskaus ein Bild Semjonows zeichnen, bis man ihm bestätigte, daß er so ausgesehen habe und nicht anders. Dieses Bild ließ er in riesigen Mengen drucken und in alle Städte und Dörfer Rußlands schicken. Ob am Eismeer oder in Wladiwostok, an der mandschurischen Grenze oder in der Ukraine, von Königsberg bis Tiflis, jeder Dorfsowjet erhielt einen Abzug und die Mitteilung, daß dieser Kopf fünftausend Rubel wert sei.
Auch nach Nowo Bulinskij kam dieser Steckbrief, und Egon Schliemann, der den Dorfsowjet gut kannte und wußte, daß dieser zweimal eine Falschmeldung über das Erntesoll abgegeben hatte,
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