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Liebesnächte in der Taiga

Liebesnächte in der Taiga

Titel: Liebesnächte in der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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wieder. »Aber das schließt ja nicht aus, daß man auch Mensch ist!«
    Das geschah am Freitagvormittag.
    Am Samstagmorgen bot sich den Fischern auf dem Eis der Lena ein merkwürdiger Anblick. In einem Eisloch hing, mit dem Kopf nach unten im strömenden Wasser, der erstarrte Körper des Jakuten Dschimskij. Er war schon seit Stunden tot. Wie einen Eiszapfen trug man ihn zurück ins Dorf und legte ihn zunächst in die Stolowaja.
    »Der Fall ist ganz klar!« sagte der Dorfsowjet, nachdem man Dschimskijs Leiche aufgetaut hatte und die Kirstaskaja nach einer gründlichen Untersuchung feststellte, daß der Körper keinerlei Verletzungen aufwies. »Dschimskij, das versoffene Schwein, hatte einen schweren Kopf, wollte ihn abkühlen, steckte ihn in ein Fischloch und verlor das Gleichgewicht. Ein tragischer Unglücksfall ist's, Genossen. Schließen wir die Akten.«
    Noch am gleichen Tag begrub man Dschimskij am Waldrand, denn da er kein Christ war, kam er nicht auf den Friedhof. Ganz Nowo Bulinskij stand an seinem Grab, und ganz Nowo Bulinskij wußte, was dieser Unglücksfall bedeutete.
    Das Telegramm Dschimskijs kam nie in Jakutsk an.
    Und es wurde auch nie mehr ein Telegramm solchen Inhalts aufgegeben. Man soll nach Möglichkeit Unglücksfällen aus dem Weg gehen, Genossen.

13
    Kurz vor Weihnachten schnallte sich Semjonow die breiten, geflochtenen tungusischen Schneeschuhe unter, die aussahen wie riesige Schwimmflossen und den Körper über den tiefsten Pulverschnee besser trugen als Skier, warf über seine Rentierkleidung einen dicken Wolfspelzmantel, nahm sich eine Axt und stapfte in den Wald, um eine schöne Tanne zu suchen.
    Kleine Tannen, die sich für einen Weihnachtsbaum in der Stube eignen, sind selten in der Taiga. Hier ist alles riesengroß, als schössen die Bäume gleich hundertjährig aus dem Boden. Es gab Zedern, Lärchen und sturmzerfetzte Tannen, die ihre Zweige voll Kampfesmut weit und verkrümmt in den Himmel streckten, aber kaum einen Baum, der aussah wie ein deutscher Tannenbaum.
    An Weihnachten wollte Semjonow mit Frau und Kind in das neue Haus einziehen, an dem zwanzig Männer von früh bis zum Sonnenuntergang gearbeitet hatten. Ein großes Fest sollte es werden, mit einem Spanferkel am Spieß, aus Honig und Blütenpollen gebrautem Met, Piroschki mit Stör und gesalzener Rentierlende. Und ein Baum sollte im Zimmer stehen, ein Weihnachtsbaum nach deutscher Art, mit Wattebällchen und Kugeln aus Stanniolpapier und bunten Glasperlenketten aus dem Nachlaß des armen Dschimskij geschmückt.
    Drei Stunden lang tappte Semjonow durch die Taiga, über Hügel und durch Senken, suchte und suchte und war sehr kritisch bei der Auswahl seines Bäumchens. Einmal rastete er, trank heißen Tee aus der Fellflasche, aß einen Fladen, der mit gezuckerten Beeren bestrichen war, und tappte dann weiter.
    Er wußte später nicht zu sagen, wie es kam … Plötzlich gab der Schneeboden unter ihm nach. Er warf die Arme noch empor, versuchte, sich an fester Erde anzukrallen, aber die Finger glitten am eisigen Boden ab, und er fiel in eine runde, enge Grube. Wie tief sie war, wußte er nicht, aber als er nach unten trat, stampfte er ins Leere, in weichen, grundlosen Schnee, der ihn, je mehr er sich bewegte, in sich hinabzog, wie ein sumpfiger Boden langsam, aber stetig sein Opfer verschlingt.
    Semjonow blieb steif und unbeweglich stehen. Er überlegte und zwang sich, nicht daran zu denken, daß er in ein paar Minuten oder in einer Stunde oder später ganz im Schneeloch versunken sein würde und dann erstickte.
    Noch einmal versuchte er, den Grubenrand zu erreichen, mit der Verzweiflung eines Menschen, der vor dem sicheren Tod zu fliehen sucht. Er zog die Knie an und schnellte sich empor, ergriff mit den Fingerspitzen wirklich den Rand, krallte sich in das Eis und zog sich keuchend und stöhnend empor, bis er die Arme und Ellenbogen auf den festen Boden aufstützen konnte. So hing er nun in der Grube, unfähig, sich ganz herauszuziehen, und wußte, daß ein erneutes Hineinfallen in die Grube das endgültige Versinken und Ersticken im Schnee bedeutete.
    Ein paarmal schrie Semjonow um Hilfe, aber dann sah er die Sinnlosigkeit seines Versuchs ein. Woher sollte er in der Wildnis Antwort bekommen? Später schneite es dann, und die Grube füllte sich mit neuem Schnee. Semjonow hatte die Stirn auf den Grubenrand gelegt, dachte an Ludmilla und das Kind und fluchte über das Schicksal, das ihm einen so sinnlosen Tod zugedacht hatte. Er

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