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Liebesnächte in der Taiga

Liebesnächte in der Taiga

Titel: Liebesnächte in der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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mit den spitzen Schnauzen gegen seine Schultern und den Kopf, leckten dann seinen Nacken und die vorgestreckten, zitternden Hände.
    »Ich habe es mir überlegt«, hörte Semjonow die Stimme des dunklen Menschen über sich. Er wurde auf den Rücken gedreht, das Mundstück einer kalten Metallflasche wurde ihm zwischen die Zähne geschoben; und dann trank er ein paar Schluck Wodka, spürte ihn wohlig durch seinen Körper rinnen und hatte das Empfinden, seine Adern und sein Gehirn weiteten sich, als blase man Luft hinein.
    »Was hast du dir überlegt, Brüderchen«, sagte Semjonow müde. »Ich danke dir, ich danke dir … Ich sehe, du bist doch ein Mensch mit einem fühlenden Herzen …«
    »Wie lange bist du in Nowo Bulinskij?«
    »Ein paar Wochen erst.«
    »Aber du kennst den Ort genau?«
    »Ja!«
    »Könntest du einen Plan zeichnen?«
    »Natürlich. Aber wozu, Freundchen?«
    »Wer viel fragt, verkürzt sein Leben … Das solltest du dir merken, ehe wir gehen.« Semjonow hatte nun nach dem Wodka einen klaren Blick. Die schreckliche Schwäche ließ nach, durch den Körper rann wieder etwas Kraft, er konnte sich aufsetzen und sah den Fremden an, der wie eine Säule aus pelzbehangenem Stein neben ihm aus dem Schnee ragte. Einen gewaltigen Bart hatte der Mann, buschige Augenbrauen, eine dicke Knollennase. Aber die Augen waren nicht schräg, und das Gelbliche seiner Hautfarbe war nicht angeboren, sondern in heißen Sommern und eissturmdurchheulten Wintermonaten gegerbt. Er war weder ein Jakute noch Tunguse, und auch aus dem Süden kam er nicht.
    »Ich heiße Illarion«, sagte der Finstere, als verstände er Semjonows abtastenden Blick. »Ich bin ein Brodjaga …«
    Er wartete auf eine Reaktion, aber Semjonow antwortete nicht und zeigte auch keinerlei Erstaunen oder Entsetzen. Illarion schüttelte den dicken Kopf. Das war etwas Neues in seinem Leben.
    »Du sagst nichts?« brummte er. »Macht dich die Angst stumm?«
    »Angst? Nein, warum, Bruder?«
    »Ich bin ein Brodjaga!« wiederholte Illarion laut.
    Semjonow lächelte. »Sehr schön. Aber ich kenne diesen Volksstamm nicht.«
    »Volksstamm! Er sagt Volksstamm, der Dummkopf!« Illarion lachte dröhnend, wirbelte mit seinem Bärenspieß den Schnee auf und bewarf die jaulenden Hunde damit. »Verstellst du dich, Freundchen, oder bist du so dumm?«
    »Vielleicht bin ich so dumm«, erwiderte Semjonow und stand auf. Er schwankte zwar noch ein bißchen, und seine Beine waren weich wie biegsame Weidenruten, aber er versuchte die ersten Schritte, und sie gelangen ganz gut. »Was ist ein Brodjaga?«
    Illarion zog den Spieß an sich, richtete die Spitze auf Semjonow und sagte düster: »Ich bin ein entsprungener Sträfling, Brüderchen. Brodjaga nennen sie uns. Noch nie gehört? Wenn du den Namen in Nowo Bulinskij nennst, werden die Weiber verstummen und die Männer vor Feigheit zittern.« Illarion lachte dunkel und legte die Spitze des Bärenspießes auf die Schulter Semjonows. »Nur wirst du den Namen nie nennen, Freundchen. Du kommst mit mir in den Wald! Ich habe eine gute Idee.«
    »Und meine Frau und das Kindchen?« Semjonow legte die Hände auf den Schaft des Spießes. »Du hast mir das Leben gerettet, und nun laß mich gehen.«
    »Wozu reden wir? Komm!« Illarion riß den Spieß aus Semjonows Händen, hob ihn und gab Semjonow einen Schlag gegen den Rücken. »Los, Brüderchen! Gehen wir! Staunen werden die anderen. Statt eines Bären bringe ich einen Menschen. Und dann wird man entscheiden müssen, was mit dir geschieht. Los, gehen wir!« Illarion bückte sich und hob die Axt auf, die Semjonow beim Sturz in die Grube weggeworfen hatte. »Was willst du mit der Axt?«
    »Einen Baum habe ich gesucht.«
    »Im Winter? Mit der Axt? Du bist doch ein Idiot!«
    »Ich suche einen Weihnachtsbaum, Bruder«, sagte Semjonow leise.
    Illarion steckte die Axt in seinen breiten Ledergürtel. Sein grobes Gesicht hatte einen merkwürdigen, ja fast versonnenen Ausdruck. »Ein Weihnachtsbaum«, sagte er rauh. »In der Taiga. Wolltest ihn wohl auch noch schmücken, was? Mit Kügelchen und Flimmer?«
    »Ja. Und Watte wollte ich dranhängen und mongolische Glasperlen. Eine Gans wollte ich braten und sie mit Schweinemett und Thymian füllen.«
    »Ein Weihnachtsbaum.« Illarion pfiff nach den Hunden. Sie waren vorausgelaufen, als ahnten sie, daß es nach Hause ging. »Ich habe den letzten Weihnachtsbaum vor vierzig Jahren gesehen. Dann haben sie mich geholt …«
    »Vor … vierzig … Jahren …«

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