Liebesnächte in der Taiga
Wachstuchtasche mit den Einkäufen fallen, als die Straßenbahn an ihr vorbeiratterte und sie Semjonow draußen am Waggon hängen sah, inmitten anderer lachender Männer.
Auch Semjonow erkannte sie sofort. Als sie die Tasche fallen ließ, als ihr etwas hochmütiges Gesicht sich in plötzlichem Erkennen verzerrte, als sie die Arme hob, war es ihm, als stünde sein Herz still. Das ist nicht möglich, dachte er. Und doch – sie ist hier! Marfa Babkinskaja. Sie hat mich erkannt! Soll alles schon zu Ende sein? Soll die Jagd wieder von vorn beginnen? O Gott, mein Gott, laß es nicht zu. Wir haben genug gelitten! Nun ist das Kind da … um Nadjas willen, Gott, laß es nicht zu …
Aber es half alles nichts … Er sah, wie Marfa Babkinskaja zu schreien begann, wie sich Menschen um sie sammelten, wie ein Taxi hielt und sie auf die Straßenbahn deutete, wie drei Soldaten herbeirannten und auf sie einsprachen. Da bog die Bahn um die Ecke, und mit einem weiten Satz sprang Semjonow ab, rannte die Straße entlang, fand eine Seitengasse, hetzte weiter, blindlings geradeaus und dann in eine Querstraße und dann wieder um die Ecke und immer weiter, weiter … Gassen, Straßen, Plätze … Endlich wurde er ruhiger, blieb in einem Hauseingang stehen, erholte sich und fragte sich dann durch zu dem Platz, wo Schliemann den Lastwagen der Sowchose Munaska, mit dem sie nach Jakutsk gekommen waren, geparkt hatte. Da Semjonow zuletzt chauffiert hatte, besaß er auch den Zündschlüssel; und wenige Minuten später raste er aus Jakutsk hinaus und auf die Straße nach Norden.
Als Schliemann eine Stunde später zum Parkplatz kam und den Wagen nicht mehr fand, ahnte er, daß etwas vorgefallen war. Er fragte nicht herum, sondern ging wie ein Unbeteiligter davon, mietete sich in Jakutsk in einer Herberge ein und wartete.
Anders war es bei Karpuschin.
Marfa riß die Tür des Zimmers auf, und bevor Karpuschin, der sich gerade rasierte, etwas fragen konnte – Marfa sah schrecklich aus, mit zerzausten Haaren, schweißigem Gesicht und bebend am ganzen Körper –, schrie sie ihm zu:
»Semjonow ist in der Stadt! Ich habe ihn gesehen! An der Straßenbahn hing er!«
»Oh!« sagte Karpuschin nur. Es war Stöhnen und Aufschrei zugleich. Das Rasiermesser warf er auf die Erde, trocknete den Schaum vom Gesicht, und es zeigte sich, daß er nur einseitig rasiert war. Aber wer achtet darauf, wenn Semjonow in der Stadt ist?
»Wo ist er?« brüllte Karpuschin und warf das Handtuch aufs Bett. »Wo?«
»In der Straßenbahn. Er fuhr an mir vorbei!«
»Und du?«
»Ich habe sofort geschrien und bin mit einem Taxi und drei Soldaten der Bahn nachgefahren!«
»Und dann?«
»Er war weg. Abgesprungen und verschwunden. Jetzt noch durchsuchen sie alle Häuser in der Umgebung. Er muß sich versteckt haben.«
»Geschrien hat sie!« brüllte Karpuschin und schlug mit den Fäusten gegen die Wand. »Wie ein Weibchen, das eine Maus sieht. Warum hast du nicht geschossen? Sofort geschossen?«
»Womit?« schrie Marfa zurück.
»Wo hast du deine Pistole?«
»In der Tischschublade.«
»In der … Oh! Ich werde wahnsinnig!« Karpuschin riß seinen Rock vom Nagel und rannte zur Tür. »Sie kann Semjonow erledigen und läßt ihre Waffe in der Schublade! Ich bekomme einen Schüttelfrost, wenn ich daran denke!«
Wie ein tollwütiger Stier rannte er durch die Straßen zum Parteihaus. Dort fegte er mit einer Handbewegung die Wache beiseite, die sich ihm in den Weg stellte, stürmte in das Zimmer des Distriktkommissars und hob beide Fäuste, als er sah, wie der Sowjet seine Pistole auf ihn anlegte.
»Ich bin Karpuschin!« schrie er. »Generalmajor Karpuschin. Hier mein Ausweis!« Er warf dem versteinerten Kommissar sein Parteibuch hin und griff zum Telefon. »Sie kennen mich in anderer Maske, Genosse, ich weiß. Alles, was Sie an mir sehen, ist falsch. Aber ich habe unbeschränkte Vollmachten von Moskau. Und das werden Sie jetzt erleben.«
Karpuschin setzte sich ans Telefon. Mit wenigen Sätzen alarmierte er das gesamte Militär von Jakutsk, die Miliz, die Werkschutzbrigaden.
Er verfügte die Sperrung aller Ausfallstraßen. Miliz und Militär kämmten nach einem Stadtplan jedes Haus durch. Vom Keller bis unters Dach wurde alles durchsucht. Nicht ein Haus blieb verschont, auch nicht die Parteihäuser, nicht einmal das Bordell, das sich offiziell ›Schneidereikombinat‹ nannte und Schürzen herstellte. Mehr aber als an den Nähmaschinen waren die Mädchen in den Betten
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