Liebesnächte in der Taiga
flogen, was am angenehmsten war im Sommer, ja, und den Güterzug, an den man alte Personenwagen koppelte und sie vollstopfte mit Menschen und Tieren. Hier fuhren die Bauern und kleinen Verdiener, die Arbeiter in den Gerbereien und Nudelfabriken, die Tabakdreher und Tuchwalker. Hier war es üblich, daß die Mütter ihre Kinder säugten; und man rückte dann zusammen, damit das Kindchen Platz genug hatte, unterhielt sich über die Ernte und schimpfte über die Natschalniks. Eine große Familie war's, und man lebte ja auch zusammen bis Taschkent oder Samarkand oder gar bis Aschchabad in Turkmenien.
Semjonow schien es zu gefährlich, mit dem Expreß zu fahren. Offiziere reisten dort mit, Parteifunktionäre, Kommissare, und wenn es das Schicksal will, steigt gerade in Alma-Ata jemand ein, der Ludmilla kannte, als sie noch die Kommissarin und Kapitänin Ludmilla Barakowa war.
Zwei Stunden mußte Semjonow anstehen, bis er einen Platz für sich und Ludmilla in dem Güterzug erhielt. Er fuhr außerhalb des vornehmen Hauptbahnhofes ab. Auf dem Güterplatz schob man ihn zusammen, und dort sah es aus, als zögen Völkerschaften weg oder hätte Vater Noah seine Arche ausgeleert. Zwergziegen, Ferkel und Hühner rannten zwischen den wartenden Menschen umher, zwei Schafböcke bekämpften sich und rannten die hornigen Schädel krachend aneinander; und dazwischen spielten die Kinder, saßen die Männer, meistens Kasaken oder Usbeken, auf der Erde, eine Matte unter sich, auf dem Kopf die runden, gestickten tatarischen Käppchen, und spielten Schach.
Semjonow eroberte mit Fäusten und Tritten eine Ecke, gleich neben der Tür, in einem Güterwagen, in dem vor kurzem noch Reissäcke verladen worden waren. Reiskörner bedeckten den Dielenboden, und die Hühner stürzten sich sofort darauf und pickten sich durch den Waggon. Hier, in der windgeschützten Ecke und doch in guter Luft durch die nahe gelegene Tür, baute Semjonow das Lager für seine Familie, breitete die Decken aus, benutzte die großen ledernen Reisetaschen als Rückenkissen, schob den Benzinkocher an die Holzwand, stellte die Kochtöpfe daneben und verkündete dann laut im Wagen:
»Wer etwas klaut, Genossen, fliegt aus dem Zug! Ein unhöflicher Mensch bin ich, das sei vorweg gesagt! Und stark bin ich auch. Ich komme aus der Taiga! Genügt das, Genossen?«
Es genügte. Man ließ Ludmilla und Semjonow in Frieden. Man beachtete sie gar nicht. Unhöfliche Menschen sind in Kasachstan wie Tote. Und so war es, als stände eine gläserne Wand zwischen der bunten Völkerschar im Waggon und Semjonow in der Ecke, und es war ihm recht so.
Die Sonne versank schon über dem goldenen Alma-Ata, und von den Hängen wehte der Geruch der wilden Obstbäume durch die Täler, als der Zug endlich anruckte. Ganz langsam rollte der Zug an und verließ durch ein Spalier von Apfel- und Aprikosenbäumen die Hauptstadt Kasachstans, die Gott einmal geküßt haben soll …
Semjonow saß an der offenen Tür, sah hinüber zu den rauhen Berghängen des Zajlinski Ala-Tau und hatte die kleine Nadja auf dem Schoß.
Hinter ihm kochte Ludmilla das Abendessen. Kascha mit getrockneten Aprikosen und Rosinen. Ein köstlicher Duft durchzog die Ecke des Waggons … ein Geruch nach Heimat und Geborgenheit.
»Wie lange werden wir fahren, Pawluscha?« fragte Ludmilla und beugte sich zu Semjonow. Sie rieb ihre Nase an seinem Nacken, und es tat ihm gut.
»Vielleicht eine Woche, Ludmilluschka. Diese Züge haben keinen festen Plan. Es sind fast sechshundert Werst. Ich nehme an, daß wir nachts nicht fahren, und wenn die Expreßzüge kommen, stehen wir auf einem Abstellgleis.«
Und so war's. Für eine Woche wurde die Ecke in dem Waggon ihre kleine, abgeschirmte Welt.
In Taschkent wurden sie umgekoppelt an einen anderen Zug. Nur wenig sahen sie von der sagenhaften Oasenstadt des alten Turkestan, sie spürten nur einen Hauch Mittelasiens, als der Zug am Rand der Millionenstadt über künstliche Kanäle – die man Aryks nennt und die die ganze Stadt durchziehen zur Kühlung – und über steinerne Brücken ratterte. Ab und zu hob sich im Sonnenglast aus dem Gewühl der unzähligen Häuser und engen Gäßchen der Eingeborenenstadt die Kuppel einer Moschee ab, oder der Finger eines Minaretts stach in den kochenden Himmel.
Der Waggon dampfte, und man glaubte, in einem glühenden Brattopf zu liegen. Die Männer liefen in Badehosen im Waggon umher, und die Frauen saßen mit nacktem Oberkörper nahe der Tür.
Nach einer
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