Liebesnächte in der Taiga
ihm Schatten, der Boden war trocken und heiß. Gönnt ihm das Schläfchen, Genossen, denn er war ein guter, alter Mann mit sieben Kindern und hatte seine Familie ernährt als Fahrkartenknipser auf einem Ausflugsschiff auf dem Baikalsee. Jetzt, im Alter, lebte er von den Zuwendungen seiner Kinder, hatte keine Sorgen, freute sich, daß seine Erziehung solche Früchte trug, alles in allem: ein braver Mensch.
Neben diesen schlafenden Mann legte Semjonow vorsichtig, damit er nicht aufwachte, seine Säcke nieder, mauerte den Schlafenden gewissermaßen mit neuem Reichtum ein und schlich sich dann weg, zurück zur Flughalle.
Ludmilla und die kleine Nadja schliefen, als das Flugzeug auf dem Flugplatz von Alma-Ata, der Hauptstadt Kasachstans, zur Landung niederglitt. Semjonow weckte Ludmilla sanft mit einem Kuß auf die geschlossenen Augen, und alle im Flugzeug, die es sahen, lächelten und nickten Semjonow zu.
Ein schönes Frauchen, Genosse. Man muß es küssen! Ein glücklicher Mensch bist du, Brüderchen …
»Alma-Ata, Engelchen«, sagte Semjonow, als Ludmilla um sich blickte.
Unter ihnen leuchtete die riesige Stadt mit Tausenden von Lichtern, ein Märchenland an der Grenze Chinas, eine Drehscheibe zwischen Asien und Sibirien. Im Mondlicht glänzten silbern die ewigen Schneegipfel des Komsomol und des Tagar über der Bergkette des Zajlinski Ala-Tau. In Terrassen bis zu 800 Meter Höhe kletterte die Stadt einen Berghang hinauf, umgeben von Wildbächen und einem Wald wilder Aprikosen- und Apfelbäume. Riesige Felder mit Frühgetreide und Mais, Baumwolle, Reis und Zuckerrüben zogen sich um die Stadt breit in die Täler der Almatinka und der Ili hinein.
Als Gott die Welt schuf, so singen die kasachischen Dichter, und sich am sechsten Tag ausruhen wollte, kam er noch einmal zurück ins Tal von Alma-Ata und küßte es, weil er glücklich war über seine Schöpfung.
Eine warme Nacht war's, als Semjonow und Ludmilla, die kleine Nadja in der Tragtasche zwischen sich, den Flughafen verließen und sich nach einem Autotaxi umsahen. Sie ließen sich zum Bahnhof fahren, bezahlten drei Rubel, denn der Fahrer war ein guter Mensch und sagte: »Der Kleidung nach kommt ihr aus Sibirien und sucht Arbeit, nicht wahr? Gebt mir drei Rubel, das ist genug. Ich weiß, wie es ist, in einer fremden Stadt das Glück zu suchen. Macht's gut, Genossen!« Er fuhr davon, ohne daß Semjonow ihm die Hand drücken konnte.
Der Zug nach Taschkent und Samarkand fuhr erst am nächsten Nachmittag. Viel Zeit hatten sie nun, sinnlose Zeit, denn jede Stunde, die sie hier verbrachten, verringerte den Abstand zwischen ihnen und Karpuschin. Wer wußte, was um diese Zeit in Nowo Bulinskij geschah oder geschehen war? Nur wer Karpuschin kannte, versteht die Angst, die jede verlorene Stunde Warten aufhäuft wie Stein auf Stein, bis sie eine hohe Mauer ist, die umstürzt und alles unter sich begräbt.
Semjonow verzichtete darauf, eine Unterkunft zu suchen und damit Spuren zu hinterlassen. »Ich habe im Flugzeug gut geschlafen, Pawluscha«, sagte Ludmilla und lehnte den Kopf an ihn. »Und sieh dir Nadja an, sie schläft noch immer. Was brauchen wir ein Zimmer?«
Durch die helle Nacht wanderten sie und lernten Alma-Ata, den Kuß Gottes, kennen. Am Ufer des Flusses Malaja Alma-Atinka betraten sie den Gorkij-Erholungspark und gingen über die breiten Wege vorbei an den Blumenbeeten und künstlichen Seen, wanderten um das moderne Schwimmbad herum und sahen durch die Gitter des Zoologischen Gartens und wanderten und wanderten …
In der Morgensonne glänzte Alma-Ata wie ein Paradies. Breite, saubere Alleen durchzogen die Neustadt, bepflanzt mit Pappeln, Eichen, Birken, Maulbeerbäumen, weißen Akazien, sibirischen Ulmen und wilden Apfelbäumen, und das Tal aufwärts leuchteten Fichtenwälder, Aprikosenhaine und sanft ansteigende Hänge voller Wein.
Semjonow und Ludmilla wanderten zurück zum Bahnhof. Der Verkehr einer Großstadt umbrauste sie. Scharen von Kindern, in Gruppen oder mit besonderen Omnibussen ergossen sich in die über fünfzig Schulen Alma-Atas, und ein buntes Völkergemisch aus Russen, Tataren, Chinesen, Kasaken, Dunganen und Usbeken zeigte Farben und verwirrende Formen.
Aber sonst war es in Alma-Ata nicht anders als überall in Rußland: Man mußte anstehen. Zwei Züge gab es, die nach Usbekistan fuhren: den normalen Expreß, mit dem die Reichen reisten, die Natschalniks, Funktionäre und Intellektuellen, wenn sie nicht ganz so vornehm waren und sogar
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