Liebesnächte in der Taiga
Ludmilla tuscheln, und es war ihm, als zittere sie plötzlich und schüttelte müde den Kopf.
»Ich habe den Kontrolleur der Holzlager wiedergetroffen«, sagte Semjonow in diesem Augenblick. »Den Mann, der neben mir auf der Lokomotive stand, als ich sie weiterfuhr. Er umarmte mich und wollte mich mitnehmen zum Natschalnik. ›Überall haben wir nach Ihnen gefragt, Genosse!‹, sagte er. ›Sie sollen eine Belohnung bekommen für Ihre gute Tat!‹« Semjonow wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich habe ihm versprochen, übermorgen ins Lager zu kommen.«
»Und welche Wohnung hast du angegeben?« fragte Ludmilla.
»Das Haus des Bahnbeamten … was sollte ich anderes sagen?« Semjonow setzte sich neben dem Herd auf einen Schemel. Von seinen Stiefeln fiel der Schlamm der Straßen in breiten Fladen ab. »Mein Gott, Ludmilluschka … sollen wir nie, nie Ruhe bekommen?«
Ludmilla schwieg. Sie dachte an das Kind. Ich kann's ihm nicht sagen, dachte sie. Jetzt nicht. Jetzt braucht er eine kräftige Suppe. Sie küßte ihn auf die stoppeligen blonden Haare, streichelte ihm zart über den gebeugten Nacken und sagte:
»Das Land ist groß, Pawluscha. Und der Frühling ist gekommen. Wir werden wieder durch die Wälder ziehen …«
Semjonow stöhnte leise auf.
Wieder die Taiga. Immer die Taiga. Das Leben eines Wolfes.
»Ich habe dir Unglück gebracht, Ludmilluschka«, sagte er heiser. »Verfluche mich …«
»Ich segne dich«, sagte sie zärtlich. »Bevor ich dich sah, hatte ich umsonst gelebt …«
Am Abend ging Ludmilla allein hinauf in die Kammer, zog sich aus, kroch unter die Decken und wartete auf Pawel Konstantinowitsch.
Unten saßen unterdessen Dr. Pluchin und Semjonow sich gegenüber und tranken aus Blechbechern den selbstgekelterten Waldbeerwein.
»Ist das ein Gesöff, mein Junge?« sagte Dr. Pluchin und schlürfte genüßlich den Wein über die Zunge. »Man riecht den Wald und schmeckt die Sonne. Trink noch ein Becherchen, mein Söhnchen.«
Semjonow schwieg und trank in kleinen Schlucken. Der starke Wein stieg in sein Gehirn wie eine fliegende Hitze. Glanz kam in seine Augen, die Wangen röteten sich, das Herz schlug schneller.
Dr. Pluchin schmatzte voll Wonne. »Stoßen wir an, Brüderchen!« rief er lustig. »Aber auf was denn? Sag, was liebst du am meisten?«
»Mein Weibchen«, sagte Semjonow dumpf.
»Also dann: auf Ludmilla, das Täubchen! Und auf die Kinderchen, die aus ihrem Schoß kommen!« Dr. Pluchin hob den Blechbecher. »Los, Söhnchen! Stoß an!«
Semjonow ließ seinen Becher sinken. »Nein!« sagte er laut.
»Warum nicht?« schrie Dr. Pluchin. Er war aufgesprungen und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Trink auf deine Kinderchen, du Schuft!«
»Ich würde auf zehn Kinder trinken, Dr. Pluchin, wenn es Sinn hätte.«
Semjonow lehnte sich an die Holzwand zurück. »Als Sie uns vor sechs Tagen aufnahmen, sagte ich Ihnen, daß Sie nicht wissen, wer wir sind. Ich wiederhole es …«
»Du wirst es mir jetzt sagen, Söhnchen.« Dr. Pluchin lehnte sich ebenfalls zurück. Er brach ein Stück Brot ab und steckte es in den Mund. Braunes, hartes Brot, gar kein Vergleich mit den duftenden Broten von Urmütterchen Marussja aus Nowa Swesda. »Los, erzähle!«
»Sie werden entsetzt sein, Dr. Pluchin.«
»Aber wieso denn? Ein Bär bist du nicht; zu einem Ren fehlt dir das Geweih; und wie der Satan aussieht, weiß ich nicht. Aber er soll nach Schwefel stinken! Stinkst du nach Schwefel? Also, Söhnchen, wozu diese Vorrede?« Dr. Pluchins greiser Gelehrtenkopf versank im Halbdunkel des Zimmers.
»Ich habe einen Revolver bei mir«, sagte Semjonow langsam und sah dorthin, wo Pluchins Gesicht in der Dämmerung verschwamm. »Und ich habe gelernt, auf kürzeste und auf weiteste Entfernung schnell und sicher zu schießen.«
»Es ist eine Schwäche des Menschen, zu viel Unnützes zu reden«, sagte Dr. Pluchin mit gleichgültiger Stimme. »Jemand – ein kluger Kopf, Freundchen – hat ausgerechnet, daß der Mensch ein Fünftel seiner Lebenszeit mit sinnlosem Gerede vergeudet! Du neigst auch dazu …«
Semjonow legte beide Fäuste auf den gescheuerten Tisch. Große, starke Fäuste, deren Schlag tödlich sein konnte.
»Ludmilla, meine Frau, hieß einmal Ludmilla Barakowa und war Kapitän der Roten Armee. Bis zum Oktober vorigen Jahres war sie politische Kommissarin im Bezirk Krasnojarsk und Lagerpolitruk von Kalinin II in Kusmowka. Dort lernte sie mich kennen.«
Dr. Pluchin zeigte keinerlei Reaktion.
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