Liebesnächte in der Taiga
Katharina Kirstaskaja und entfaltete den Brief. »Zwei Jahre habe ich nichts von ihm gehört. Wie geht es ihm, Borja?«
»Ein Tyrann ist er, Genossin! Ein Teufel!«
Die Kirstaskaja lachte und las die wenigen Zeilen des Briefes. Dann ging sie um den Wagen herum und sah zur Ladeluke hinauf. Dort saßen Semjonow und Ludmilla und warteten auf ihr weiteres Schicksal.
»Willkommen am Rand der Welt«, sagte die Kirstaskaja und steckte den Brief Pluchins in ihre Bluse. Die Bluse war rot und leuchtete in der Sonne grell gegen die blonden Haare an. Wie gesagt, Katharina war ein hübsches Frauchen.
Sie gab Ludmilla die Hand und half ihr aus dem Wagen. Semjonow sprang hinterher, holte die Säcke und die beiden in Decken gewickelten Gewehre aus dem Wagen. Kaum standen sie auf der Straße, fuhr Borja schon wieder an. Sein Ziel war das staatliche Magazin. An die beiden Menschen, die er abgeladen hatte, erinnerte er sich später nicht mehr. Er vergaß sie gründlich, um sein Gewissen reinzuhalten.
»Boris Antonowitsch hat mir alles geschrieben«, sagte die Kirstaskaja. Sie hatte eine tiefe Stimme, melodisch und schwingend wie der Ton aus einem Cello. »Seine Freunde sind mir immer willkommen.« Sie ging Semjonow und Ludmilla voraus in die Krankenstation und führte sie in ein kleines Zimmer. Nichts war darin als ein Bett und ein Sofa, ein schmaler Schrank aus Tannenholz und ein Tisch mit zwei Stühlen. Aber eine Blume stand am Fenster. Eine Primel, rot mit weißen Rändern. Etwas schwindsüchtig sah sie aus, aber sie blühte.
»Das ist alles, was ich Ihnen bieten kann«, sagte Katharina Kirstaskaja. »Aber das Zimmer ist sauber, ohne Läuse und Wanzen, und auch die Fenster sind dicht, wenn der Sturm aus dem Norden heult.«
Semjonow stellte die beiden Säcke mit ihren Habseligkeiten auf die Dielen und nahm seine Mütze ab. Ludmilla nickte.
»Wir werden uns hier wohl fühlen«, sagte sie mit fester Stimme.
Den Tag verbrachten sie mit Auspacken und Einräumen, badeten sich im Badezimmer, das gleich nebenan lag und einen Ofen für Holzfeuerung besaß. Semjonow versteckte die Gewehre unter der Matratze des Bettes, rasierte sich und schnitt sich die Haare wieder kurz. Gegen Abend steckte die Ärztin nach kurzem Anklopfen den Kopf durch die Tür.
»Kommen Sie mit zum Essen?« fragte sie. »Ich habe zwei Hühnchen braten lassen.« Sie trat ins Zimmer und staunte Ludmilla an. Aus dem zarten, zerbrechlichen Frauchen in der schmutzigen Kleidung war eine schöne junge Frau geworden. Ludmilla trug einen grauen Wollrock, eine gelbe Bluse, Seidenstrümpfe und Sportschuhe. Es war die letzte Erinnerung an Wiwi und den Magazinverwalter, der ihr heimlich die seltenen Dinge in einem Karton hinters Haus gestellt hatte, wo Ludmilla sie in der Dunkelheit abholte.
»Sie sind schön, Genossin«, sagte die Kirstaskaja und sah dann Semjonow an. »Wir werden auf sie aufpassen müssen, Pawel Konstantinowitsch. Olenek ist eine wachsende Stadt, jeden Tag wird ein neues Haus errichtet … und die Stadt besteht fast nur aus Männern. Aus rauhen Männern.«
Sie aßen im Zimmer Katharinas, das groß und warm war und nach sibirischen Maßstäben fast luxuriös eingerichtet mit einem Büfett, Sesseln und einem runden Tisch. Sogar ein Radio mit Batteriebetrieb spielte auf einem Sockel, und ein Grammophon mit drei Plattenstapeln stand in der anderen Ecke.
Sollten wir endlich daheim sein? Endlich, endlich daheim? Semjonow dachte es wie eine Bitte an Gott.
Im Nebenzimmer saß die Kirstaskaja vor ihrem Schreibtisch und las eine Funkmeldung durch, die vor Wochen schon von einem Offizier des in der Nähe liegenden Fernmeldebataillons gebracht worden war.
Eine Fahndung. Ein Steckbrief.
Gesucht wird der deutsche Spion Franz Heller, der sich Pawel Konstantinowitsch Semjonow nennt. Und die ehemalige politische Kommissarin Ludmilla Barakowa, verheiratete Semjonowa, flüchtig mit Semjonow, angeklagt des Landesverrates.
Beschreibung der Ludmilla Barakowa: Mittelgroß, schlank, schwarze Haare, schwarze, etwas schräggestellte Augen … Unterschrift Generalmajor Karpuschin …
Mit ernstem Gesicht zerriß Katharina Kirstaskaja den Steckbrief und warf die Schnipsel in den Papierkorb.
Sie sollen hier ihre neue Heimat finden, dachte sie dabei. Pluchin hat sie geschickt, und er kennt die Menschen. Was sie auch getan haben mögen … hier am Olenek, zwischen Taiga und Tundra, büßt man alles ab.
Leise, auf Zehenspitzen, kehrte Katharina in das Wohnzimmer zurück. Sie
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