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Liebesnächte in der Taiga

Liebesnächte in der Taiga

Titel: Liebesnächte in der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sah Semjonow und Ludmilla umschlungen vor dem Grammophon sitzen und ließ sich lautlos in einem Sessel nahe der Tür nieder.
    So groß ist ihre Liebe, dachte die Kirstaskaja, und es war etwas Neid in ihren Gedanken. Kann man verstehen, daß Liebe so herrlich sein kann, daß man sich loslöst von allen Gesetzen?
    Sie konnte es nicht verstehen. Sie kannte keine Liebe. Vier Tage und vier Nächte lang war sie die Geliebte eines Arztes in Irkutsk gewesen … Dann warf er sie aus dem Zimmer wie einen angefaulten Apfel und sagte dabei: »Und nun geh, Kathinka … ich kenne dich jetzt. Mich reizte nur das Neue!«
    Erstechen, erwürgen, erschießen hätte sie ihn können. Sie hatte mit den Fäusten gegen die Wände getrommelt und ihr eigenes Spiegelbild angespuckt. Dann erfuhr sie noch, daß er verheiratet war und drei Kinder hatte. Eines Nachts begegnete sie ihm am Ufer des Baikalsees. Er war allein, betrunken und sang gegen den Wind unanständige Lieder. Ohne ein Wort war sie an ihn herangetreten und hatte ihm eine Tüte gemahlenen schwarzen Pfeffer in die Augen geworfen. Er heulte auf wie ein verwundeter Hund, warf die Hände vors Gesicht und rannte davon.
    Niemand entdeckte, wer das Attentat verübt hatte. Die Augen waren nicht mehr zu retten. Er blieb blind. Kurz darauf wurde Katharina Kirstaskaja an den Olenek versetzt, und Irkutsk lag weit weg.
    Liebe!
    Katharina Kirstaskaja senkte den Kopf.
    Wenn sie an Liebe dachte, stellte sie das Grammophon an. Wer kann ermessen, wie einsam ein Mensch sein kann, wenn er nur noch aus Sehnsucht besteht …?
    Es wurde Juli. Der Sommer glühte über der Taiga, die Mücken schwirrten von den Sümpfen am Olenek herüber, und die neue Stadt wuchs noch immer, Haus um Haus, Straße um Straße. Man hatte ja Platz genug.
    Während Semjonow auf dem Bau arbeitete, hatte die Kirstaskaja nach einigen Wochen Ludmilla so weit ausgebildet, daß sie Verbände anlegen, Spritzen geben, Einläufe machen und den Puls fühlen konnte. Es fiel Ludmilla nicht schwer. »Wir wurden auch im Sanitätsdienst ausgebildet«, erklärte sie, als sich die Ärztin über Ludmillas Geschicklichkeit wunderte. »Ich kann Brüche schienen und Brandwunden behandeln und Schlagadern abbinden. Und wenn ich bei Ihnen zusehen darf, kann ich Ihnen in ein paar Wochen auch assistieren.«
    Bald übernahm Ludmilla alle einfachen ärztlichen Arbeiten, während sich die Kirstaskaja nur noch um die schwierigen medizinischen Probleme kümmerte. War sogenannter ›Operationstag‹, stand Ludmilla neben ihr und assistierte. Dreimal eine mißlungene Abtreibung, einen Blinddarm, einen tiefsitzenden Karbunkel, eine Amputation des rechten Daumens, der in eine Kreissäge gekommen war. Auch Zähne ziehen mußte die Kirstaskaja.
    Bis Norilsk, der Stadt am Pjaschina-See, östlich des großen Jenissej, war Major Bradcock gekommen. Er hieß jetzt Fjodor Borodinowitsch Awdej, hatte die Papiere eines Geologen in der Tasche und reiste im Auftrag der sowjetischen geologischen Gesellschaft der Lomonossow-Universität von Moskau durch die Lande, um irgend etwas zu entdecken, was die nicht verstanden, denen er es erklärte. Es war die Rede von Gesteinen, aus denen man elektrische Energie gewinnen könnte. Durch die Atomspaltung, versteht sich. Wer Awdej anhörte, nickte weise, tat so, als verstände er alles, bewunderte den Mann, der sein Leben solchem Unsinn widmete, und fragte nicht länger, um sich nicht zu blamieren. Damit hatte Bradcock genau den Zweck seiner Maskerade erreicht: Die Eitelkeit der Menschen ermöglichte es ihm, quer durch Sibirien bis nach Norilsk zu reisen.
    Dort fand er die erste Spur dessen, was er suchte: In den durch vielfache Postenketten der Roten Armee gesicherten Wäldern, deren Umgebung noch zusätzlich völlig vermint war, lagerten Fertigteile einer neuen Atomstadt. Jeden Tag flogen Transportmaschinen neue Teile heran, luden Schiffe auf dem Jenissej an besonders konstruierten Hafenanlagen Maschinen und eine unübersehbare Menge Kisten aus. Lastwagenkolonnen fuhren neue Truppen heran; auf Sattelschleppern wuchteten Rampen und stählerne Riesenlafetten durch die Taiga; und alles sammelte sich in Norilsk vor den Augen Major Bradcocks.
    Um die gleiche Zeit – es war im Mai – hatte Generalmajor Karpuschin eine Besprechung mit den Kommandanten der Taigagarnisonen. Karpuschin war in diesen Wochen gealtert. Gelblich war seine Haut geworden wie bei einem Leberkranken, und wenn er einen Bleistift in die Hand nahm oder gar ein Glas,

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