Liebesnaehe
Gefühl, sich der Fremden auf eine angemessene, vorsichtige Weise zu nähern, nein, er überstürzt nichts, er will sich nur ein genaueres Bild machen
und der Faszination, die ihn nicht loslässt, einen Hintergrund geben.
Er geht mit Lea zurück ins Hotel, er dankt ihr für die Informationen und fügt noch hinzu, dass sie seine Nachfragen vertraulich behandeln solle. Dann aber entschließt er sich, auch noch die letzte, ihn beschäftigende Frage zu stellen, die Frage nach Jules Zimmernummer. Die dürfe sie ihm eigentlich nicht geben, antwortet Lea leise, aber dann schleicht sie hinter ihre Rezeptionstheke, schaut kurz nach und schreibt eine Nummer auf einen Zettel, den sie ihm ohne weiteren Kommentar zuschiebt.
Er schaut auf den Zettel, einen Moment lang kann er gar nicht fassen, so unkompliziert an eine wichtige Auskunft gekommen zu sein. Etwas hilflos steckt er den Zettel ein, verbeugt sich kurz, sagt aber nichts mehr, sondern geht durch das Foyer zum Lift. Er drückt den Liftknopf und lässt sich dann in das Stockwerk fahren, in dem sich das Zimmer der schönen Schwimmerin befinden muss.
Eine Journalistin? Eine Fotografin? Ja, das hält auch er für möglich. Er kann sich aber nicht vorstellen, dass sie ihre Tage in einem Redaktionsbüro oder an einem anderen festen Arbeitsplatz verbringt, nein, er ist davon überzeugt, dass sie viel unterwegs ist, ja, er kann sich gut vorstellen, wie sie große Städte durchstreift und durchwandert, immerzu auf einer neugierigen und hellwachen Suche nach etwas Besonderem. Seltsam ist nur, dass er sich keine Begleitung für sie vorstellen kann, in seinen Phantasien ist sie allein unterwegs, allein, ganz allein . Plötzlich denkt er das mit starker Betonung, als müsste er es sich eintrichtern oder sich versichern, dass es so ist. So ist es, es ist bestimmt
so, denkt er dann sogar immer wieder, er versteht nicht, was in ihn gefahren ist. Entwirft er ein Bild, so, wie es ihm gerade passt? Oder lassen seine ersten, noch flüchtigen Eindrücke wirklich den begründeten Schluss zu, dass sie allein lebt und viel unterwegs ist? Gerade diese Vermutung, denkt er weiter, trägt einiges dazu bei, dass er sich so stark für sie interessiert, ja, das stimmt, aber diese Phantasien über ihr Alleinsein reichen noch weiter, denn sie gaukeln ihm vor, dass sie den richtigen Begleiter noch nicht gefunden habe, und sie lassen ihn sogar davon träumen, dass genau er und niemand anderes dieser Begleiter sein könnte, ja sogar sein müsste. Dabei macht sie überhaupt nicht den Eindruck, unbedingt einen Begleiter nötig zu haben, ganz im Gegenteil, sie macht einen durch und durch selbständigen, souveränen Eindruck, als passe das Alleinsein zu ihr und als sei sie nicht aus einer Schwäche, sondern aus einer Stärke heraus allein. Also was nun und wie? Seine Gedanken bewegen sich im Kreis, er kommt nicht recht voran, einerseits beeindruckt ihn ihre offenkundige Selbständigkeit, andererseits stellt er sich vor, dass ausgerechnet er die richtige Person sein könnte, dieser Selbständigkeit noch einen neuen, starken Akzent hinzuzufügen. Für wen hält er sich eigentlich?
Als er sich ihrer Zimmertür nähert, sieht er plötzlich, dass die Tür weit offen steht. Er verlangsamt seinen Schritt, er kann sich nicht vorstellen, dass Jule Danner ihre Mittagsmahlzeit unterbrochen hat, nein, das wird auch nicht so sein, denn er erkennt jetzt einen kleinen Wagen mit Getränken, der etwas im Abseits, in der Nähe der Tür, steht. Anscheinend ist eine der Hotelangestellten
dabei, die Getränke der Minibar nachzufüllen, er nähert sich vorsichtig der geöffneten Tür und schaut dann hinein in das große Zimmer, ja, richtig, die Minibar wird gerade nachgefüllt, genau, wie er es sich gedacht hat.
Er grüßt die junge Frau und bleibt in der Tür stehen, er unterhält sich mit ihr und schaut dabei in das Zimmer, um sich möglichst viele Details einzuprägen. Auf dem Schreibtisch entdeckt er ein Aufnahmegerät, daneben steht ein großes Wasserglas zusammen mit einer wohl vor Kurzem geleerten kleinen Sektflasche. Weiter rechts liegt eine dicke, mit einem großen Stapel Schreibpapier gut gefüllte Schreibmappe, einige Briefumschläge quellen aus ihr heraus, das Ganze macht einen irgendwie satten, üppigen Eindruck, wie auf einem Stilleben eines barocken Meisters.
Das breite Bett wird von einem hellgrünen Bademantel mit weit ausgebreiteten Ärmeln bedeckt, es sieht beinahe so aus, als hätte dieser leblose
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