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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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jetzt die Kamera auf: Einen nackten, weiblichen Körper, dessen beide Hände das Buch so halten, dass die Augen nicht zu erkennen sind, wohl aber die dunkelrot geschminkten Lippen.

    Sie wartet zwei, drei Musikstücke ab, die alle nicht länger dauern als wenige Minuten. Dann legt sie das Buch weg, rollt sich seitlich vom Bett und steht still, während die Kamera wieder das breite Bett und den grünen Bademantel filmt. Sie zählt langsam bis dreißig, dann schaltet sie die Kamera ab. Sie greift nach dem Bademantel und zieht ihn über, sie fühlt sich etwas erschöpft und geht ans Fenster. Sie schaut hinunter auf die orangefarbenen Sonnenschirme und die weiß gedeckten Tische und erkennt Katharina, an deren Tisch gerade ein Mann Platz nimmt. Sie ist zunächst wieder für einen kurzen Moment erschrocken, dann aber dreht sie die Fotokamera zur Seite und beginnt zu fotografieren.

    Sie fotografiert hastig, sie fotografiert zunächst das Paar, Katharina und den Fremden, dann aber fokussiert sie auf den Kopf des Mannes und zoomt, so nahe es geht, heran: Das kurze, blonde Haar, die ungewöhnlich breite Stirn, die hellblauen, wegen des starken Sonneneinfalls etwas zusammengekniffenen Augen. Vom Kopf aus geht sie dann langsam nach unten, sie schießt ein Bild nach dem anderen, und es gefällt ihr, wie die Schnellschussautomatik jetzt rhythmisch rattert und zu einer zweiten Musik neben der asiatischen Bambusflöten-Musik wird.

    Sie bemerkt ihren heftiger werdenden Atem, ja, sie atmet kurz und hastig, als antwortete dieses Atmen auf das Rattern der Kamera, sie kann gar nicht genug davon bekommen, Bilder von diesem Mann neben Katharina zu schießen, der ihr an diesem Tag bereits zwei Botschaften geschickt hat. Wer ist das? Ein guter Bekannter von Katharina? Vielleicht sogar ein Freund? Oder doch nur ein Gast, der an ihrem Tisch Platz genommen hat, weil alle anderen Tische besetzt sind?

    Während sie seinen ganzen Körper weiter von oben nach unten mit ihren Aufnahmen abtastet, glaubt sie zu begreifen, was ihr an ihm so gefällt: Er hat etwas Gelassenes, Ruhiges, er wirkt wie ein Mann, mit dem man sich gut unterhalten und lange Gespräche führen kann. Er ist also nicht einer, der auftrumpft oder sich wichtig tut, das spürt sie, nein, ganz im Gegenteil, er hat etwas Konzentriertes, als beobachtete er gut und als machte er sich zu allen Beobachtungen seine eigenen, klugen Gedanken.
    Genau das aber mag sie: Gelassenheit, Ruhe, Klugheit,
hinzu kommt noch etwas anderes, wie soll sie es nennen, vielleicht könnte man es »Sanftmut« nennen oder »Geduld« , nein, sie hat das treffende Wort noch nicht gefunden, aber sie spürt es: Dieser Mann hat etwas Geduldiges und Verschlossenes, als ließe er sich bei seinen Aktionen ausreichend Zeit und als hätte er genau die notwendige innere Stärke, um nicht die halbe Welt in diese Aktionen mit hineinzuziehen.

    Seltsam, sie kann sich nicht vorstellen, wie er sich in einer großen Gesellschaft bewegt, »eine große Gesellschaft« passt nicht zu ihm, wohl aber ein weiter Spaziergang zu zweit, ja, genau, plötzlich packt sie richtiggehend die Lust, mit ihm einen weiten Spaziergang zu machen, sie stellt sich vor, wie schön das wäre: zu zweit einige Stunden in aller Ruhe hinauf in die Berge zu gehen.

    Und sein Beruf? Womit beschäftigt sich dieser Mann? Sie kann sich nicht vorstellen, dass er einen der gängigen Allerweltsberufe hat, nein, sie hat aber keine gute Idee, sie kann sich höchstens vorstellen, dass er ein Forscher ist, der jahrelang ein Projekt begleitet und es langsam, aber stetig vorantreibt. Ein paar Vorträge im Jahr, zwei, drei Forschungskonferenzen, über das ganze Land verteilt, ja, so könnte es sein, dieser Mann könnte ein zurückgezogen lebender Forscher sein, der seinen Projekten viel Zeit widmet und daneben einige Passionen hat, die er vor seinen Kollegen geheim hält.

    Passionen? Aber welche Passionen? Und wie ist sie jetzt darauf gekommen? Die emsigen Forschungen, stellt sie
sich vor, sind für diesen Mann eine Art Trainingsprogramm, mit deren Hilfe er eine dauerhafte Konzentration aufbaut und am Leben erhält, daneben aber hat er einige undurchschaubare Passionen, über die er Stillschweigen wahrt. Die Passionen sind geheim, da ist sie sich sicher, kein Mensch weiß von ihnen, sie spürt aber genau, dass es sie gibt, sie glaubt es an den Blicken und Bewegungen dieses Mannes, die etwas Spannungsreiches und Emotionales haben, ablesen zu können, so, als gäbe es im

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