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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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schon früher Nachmittag, antwortet sie.
    – Einen Augenblick, sagt er, setz Dich bitte noch für einen kurzen Moment, ich habe noch eine letzte Frage.

    Auf sein Bitten hin nimmt sie noch einmal kurz Platz.
    – Na los, sagt sie. Was willst Du noch wissen?
    – Ich will wissen, woran Georg gestorben ist, sagt er.
    – Er ist an einem Herzinfarkt gestorben, antwortet sie. Ich sagte ja schon, wir hatten gerade geheiratet, da ereilte ihn dieser Infarkt. Er saß in einem Taxi und war auf dem Weg zum Flughafen, er wollte für ein paar Tage nach London. Er hatte einen wichtigen Termin, dort in London, mein Gott, ja, er hatte einen wirklich wichtigen Termin … – aber, nein, ich kann Dir das jetzt nicht erzählen, ich kann es einfach nicht, es ist eine andere Geschichte, und es ist ein anderes schwieriges Drama.

    Er sieht, dass sie plötzlich sehr bewegt ist. Sie schluckt, anscheinend hat er mit seiner Nachfrage eine empfindliche Sache berührt, sie schüttelt den Kopf, sie schweigt, dann steht sie entschlossen auf und verlässt den Tisch. Instinktiv steht er auch auf, ihr Aufbruch zieht ihn regelrecht nach oben, er steht einen Moment hilflos neben ihr, dann umarmt er sie.
    – Es tut mir leid, dass ich nachgefragt habe, sagt er.
    – Ich erzähle es Dir ein andermal, antwortet sie, jetzt ist es erst einmal genug. Ich bin mit all diesen Dingen noch nicht im Reinen, verstehst Du?

    – Ja, sagt er, ich verstehe Dich gut, ich verstehe Dich sogar sehr gut.

    Er räuspert sich, seine Stimme wird schwächer und beinahe tonlos, er räuspert sich ein zweites Mal und bemerkt, dass sie sich von ihm löst und ihn anschaut.
    – Was hast Du? Geht es Dir nicht gut? fragt sie.
    – Ich habe Dir, was mich betrifft, auch einiges zu erzählen , antwortet er.
    Sie schaut ihn unverwandt an, sie schüttelt den Kopf.
    – Muss ich mir Sorgen machen? fragt sie.
    – Nein, musst Du nicht, antwortet er.
    – Wir sehen uns am frühen Abend, sagt sie und zieht ihn zu sich. Er beugt sich etwas zu ihr herab und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn.
    – Verlauf Dich nicht, sagt sie.
    – Keine Sorge, antwortet er, bis heute Abend!

    Sie geht jetzt davon, aber er schaut ihr nicht nach. Er nimmt wieder Platz und schiebt den Teller mit dem gegrillten Stockfisch und dem Gemüse weit von sich. Einige Minuten bleibt er regungslos sitzen, ihm ist kalt.
    Er leert sein Glas, dann holt er sein Notizbuch hervor. Er schlägt es auf und zögert einen Moment. Dann notiert er:
    Feldsalat mit Steinpilzen. Gegrillter Stockfisch mit Gemüse. Ergenzinger Ochsenbräu. Kein Kaffee. Und was für ein Gespräch!

12
    SIE SITZT im grünen Bademantel an ihrem Schreibtisch und sortiert die Fotos, die sie von Katharina und dem Fremden gemacht und eben ausgedruckt hat. Sie wählt drei Aufnahmen aus und legt den restlichen Stapel in die Schreibmappe. Die beiden Botschaften des Fremden nimmt sie heraus und steckt sie zusammen mit den ausgewählten Aufnahmen in eine kleine Umhängetasche, dann packt sie noch einen Notizblock und mehrere Stifte ein. Sie überlegt kurz und entscheidet sich schließlich, weder die Video- noch die Fotokamera mitzunehmen. Sie möchte das Hotel jetzt verlassen, sie möchte ein wenig spazieren gehen.

    Sie legt den Bademantel ab und zieht eine weiße Bluse, Jeans und einen roten Pullover an, schließlich holt sie noch eine dunkelbraune Lederjacke aus dem Kleiderschrank, greift nach der Umhängetasche und verlässt das Zimmer, die Lederjacke über dem linken Arm. Sie hat die japanische Musik noch im Ohr, diese langsam daherkommenden Klänge einzelner alter Instrumente tun ihr gut, Katharina hat ihr die CD während eines früheren Aufenthaltes in diesem Hotel einmal geschenkt. Sie geht langsam und vorsichtig, als fiele es ihr schwer, sich von ihrem Zimmer zu entfernen, und wahrhaftig, sie hat das unbestimmte Gefühl, dass die Erlebnisse in diesem Zimmer noch nicht hinter ihr liegen, sondern unvermindert nachwirken.

    Was ist bloß mit ihr los? Sie denkt kaum noch an das Projekt, das sie sich für den Aufenthalt in diesem Hotel vorgenommen hatte, stattdessen beschäftigt sie beinahe ununterbrochen dieser Fremde, der sich seit ihrer Ankunft Schritt für Schritt in ihr Leben gemischt hat. Mit einer solchen Begegnung und Irritation hatte sie am wenigsten gerechnet, sie hatte ihr Projekt wie immer sehr gut geplant, sie hatte die einzelnen Schritte genau vor Augen, jetzt aber glaubt sie, dass sie das Projekt korrigieren, ändern oder erweitern sollte, sie hat

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