Liebesnaehe
einem bestimmten Projekt, und er besucht außerdem Katharina. Ist das nun ein Zufall oder steckt mehr dahinter? Katharina könnte ihr bei der Beantwortung dieser Frage vielleicht weiterhelfen, aber Katharina ist in dieser Hinsicht
noch verschwiegen. Katharina und sie – sie sind viel mehr als bloße Bekannte oder Freundinnen, Katharina und sie – sie gehören eng zusammen, viel enger, als jemand in diesem Hotel oder sonstwo es ahnt. Sie sprechen darüber aber nicht, auch nicht miteinander, sie wahren darüber ein strenges Stillschweigen.
Der Weg wird jetzt schmaler, in seiner Mitte ist ein Grasstreifen, der wegen der spätsommerlichen Trockenheit schon eine leicht goldene Färbung hat. Sie durchquert mehrere kleine Wäldchen und kommt zwischendurch immer wieder ins Freie, wo sich der Weg lang gestreckt durch die hügeligen Wiesen schlängelt. Dann führt er dicht an das Gebirgsmassiv heran und zieht an ihm entlang, sie mag dieses einsame Gehen sehr, stundenlang könnte sie so unterwegs sein.
Aber wie steht es nun mit ihrem Projekt? Eigentlich hatte sie vor, morgen in der Frühe damit anzufangen, sie hat die gesamte Ausrüstung, die sie dafür braucht, schließlich dabei. Normalerweise würde sie im Pool auf dem Hoteldach beginnen, so war es jedenfalls mit der Hotelleitung vereinbart, sie hatte vor, in der Umgebung des Pools die ersten Fotoserien zu schießen und die ersten Tonaufnahmen zu machen. Hat sich daran nun etwas geändert? Im Grunde nicht, aber sie ist nicht mehr so bei der Sache, wie sie es im Normalfall wäre. Außerdem muss sie zugeben, dass ihr das Projekt nun irgendwie lückenhaft vorkommt, sie hängt nicht mehr mit vollem Ehrgeiz an diesem Vorhaben, irgendein Teil von ihr hat sich davon getrennt.
Seltsam, immer von Neuem löst der Anblick von Johannes Kirchner in ihr ein Vertrautheitsgefühl aus, und das, obwohl sie ihm zuvor noch nie begegnet ist. Dieses Vertrautheitsgefühl ist wie das Gefühl einer Verwandtschaft, ja, wirklich, er ist ihr so nahe wie ein älterer Bruder. Könnte sie so etwas auch beweisen? Ja, und zwar dadurch, dass sie vor ihm keine Geheimnisse hätte, sondern gleich bei der ersten Begegnung über alle nur erdenklichen Themen vollkommen offen mit ihm sprechen würde.
So etwas hat sie noch nie erlebt, denn ihre bisherigen Beziehungen zu Männern waren keineswegs einfach und entwickelten sich nur langsam, nach vielen Abwägungen und Prüfungen. Einen Schritt vor und mehrere zurück … – so haben sich diese Beziehungen bisher immer gestaltet, und wenn es denn einigermaßen geschafft und ein Mann, wie man so sagt, endlich »an ihrer Seite« aufgetaucht war, blieb sie doch misstrauisch und vorsichtig und bemerkte jeden kleinen Fehlgriff.
Rund und stimmig waren ihre so genannten Beziehungen also noch nie, spöttisch hat sie diese Verhältnisse immer ihre »Installationen« genannt, und am Ende kam es ihr wahrhaftig so vor, als hielten diese »Installationen« etwa für die Vorbereitungs- und Präsentationszeit einer ihrer Ausstellungen, also etwa von Vernissage bis Finissage. Sie hatte sich an diesen raschen Wechsel gewöhnt, aber mit der Zeit wurde sie es leid, und nun lebt sie seit über zwei Jahren allein, ohne Beziehung, eine strenge Arbeiterin, die nur noch an ihre Projekte, aber nicht mehr an so etwas wie »Liebe« gedacht hat. »Liebe« ist keine Installation,
nein, wahrhaftig nicht, »Liebe« ist etwas, das auf Zeitlosigkeit hin angelegt ist.
Obwohl sie schon einige Zeit unterwegs ist, wird sie nicht müde. Das tief über die Wiesen dahinflutende Sonnenlicht tut ihr gut, es ist windstill, nirgends ist ein einziger Mensch zu sehen. Die Spitzen der Berge erstarren jetzt in einem kompakten, granitfarbenen Grau, das mit feinen, weißen Rissen durchzogen ist, und die Bergwälder haben etwas ungewohnt Lichtes, als bewegten sich die einzelnen Bäume wie in Trance langsam voneinander weg.
Sie muss wieder und wieder an ihn denken, nein, es ist einfach nicht mehr zu vermeiden, dass sie jetzt mit ihm Kontakt aufnimmt und seine zweite Zettel-Botschaft erwidert. Sie geht weiter und denkt darüber nach, was sie schreiben könnte, als sie am Rand einer kleinen Felsgruppe auf einen im späten Sonnenlicht liegenden Sitzplatz stößt. Es handelt sich um zwei einfache Sitzgelegenheiten aus Holz, die einander frontal gegenüberstehen und zwischen denen ein kleiner, rechteckiger Tisch aus ebenfalls rohem, kaum bearbeitetem Holz postiert ist.
Das Bild dieses Sitzplatzes löst
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