Liebesnaehe
sofort eine Erinnerung in ihr aus, ja, diese Gegenüberstellung von zwei Stühlen und einem dazwischen postierten rechteckigen Tisch kommt ihr sehr bekannt vor. Sie starrt auf das Ensemble und wendet den Blick nicht ab, sie konzentriert sich, so gut es geht, und dann fällt es ihr ein: the artist is present hieß die Performance einer Künstlerin in New York, während
der sie im dortigen Museum of Modern Art regungslos auf einem einfachen Stuhl saß und sprachlos eine Person aus dem Publikum anschaute, die ihr gegenüber, auf einem ebenfalls einfachen Stuhl, Platz genommen hatte.
Viele Minuten lang hatten die einzelnen Sitzungen oft gedauert, der Besucherandrang zu diesen Auftritten war enorm gewesen, und sie selbst hatte sich manchmal die Live-Übertragung dieser täglich stattfindenden, stundenlangen Performance im Internet angeschaut. Dabei hatte sie besonders beeindruckt, dass manche Personen aus dem Publikum unter der anscheinenden Intensität des langen, unverwandten Angeschautwerdens wie Wachsfiguren bei großer Hitze dahingeschmolzen waren. Sie hatten sich langsam in Tränen aufgelöst, ja, sie hatten erst unmerklich, dann aber immer ungehemmter zu weinen begonnen und sich schließlich unter Tränen entfernt.
Sie hatte sich gefragt, wie es mit diesen Menschen so weit hatte kommen können, denn sie hatte sich nicht vorstellen können, was mit einem genau passierte, wenn man sich dem stoischen, geduldigen und leicht teilnehmenden Blick der bekannten Künstlerin aussetzte. Wie schaffte es dieser Blick, so tief ins Innere eines Gegenübers vorzudringen? Was passierte genau während all dieser Prozesse?
Einige Versuchspersonen hatten darüber gesprochen und erzählt, wie die anfängliche Fremdheit zwischen der Künstlerin und ihnen selbst sich während des gegenseitigen
Anschauens und Dasitzens unglaublich rasch in eine intensive Nähe verwandelt habe und wie diese Nähe gerade wegen des anhaltenden Schweigens immer stärker und schließlich sogar so stark geworden sei, dass sie die Beherrschung verloren hätten.
Sie nimmt auf einem der Stühle Platz und holt ihr Handy aus ihrer Umhängetasche, dann tippt sie eine Nachricht ein und verschickt sie sofort an die Handy-Nummer, die Katharina für sie notiert hat. Sie hat »the artist is present« getippt, genau das, und genau nur diese vier Worte. Sie lächelt, diese kleine Aktion hat sie erleichtert, jetzt, als sie endlich mit ihm Kontakt aufgenommen hat, wird sie etwas ruhiger, so dass sie sich auch dem Buch zuwenden kann, das Katharina ihr mit auf den Weg gegeben hat. »Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland«, richtig, so heißt es. Und worum geht es in diesem Buch?
Sie lehnt sich auf dem einfachen Holzstuhl etwas zurück, zieht die Lederjacke aus und macht es sich bequem. Sie blättert langsam in dem schön ausgestatteten Band und informiert sich fürs Erste mit Hilfe der Klappentexte, bevor sie dann Seite für Seite zu lesen beginnt.
Es handelt sich um ein Reisetagebuch eines japanischen Dichters aus dem siebzehnten Jahrhundert, der damals fünf Monate lang tausende von Kilometern zu Fuß in Japan unterwegs war. Während dieser langen Wanderung hatte er an vielen Kultstätten ein kurzes Gedicht geschrieben, solche Gedichte nannte man Haikus, und man verstand darunter Gedichte von jeweils drei Zeilen, die
nichts Großartiges wollten, sondern sich mit geradezu rührend schlichten Worten auf einige unauffällige Details des jeweiligen Raums einließen. Der Dichter nannte seine Reise gleich zu Beginn eine »Wanderübung«, und als sie ein wenig in seinem Tagebuch gelesen hat, ahnt sie, was damit gemeint ist: Er pilgert von Station zu Station, und er verewigt sich an den kultischen Stätten seines fernöstlichen Glaubens mit Gedichten, indem er diese Gedichte nicht von sich selbst, sondern von dem sprechen lässt, was er an diesen Orten beobachtet: Reisfelder, Kirschblüten, Strohsandalen …
Sie liest langsam, es ist eine gute Lektüre, die sie wieder zurückführt zu der japanischen Musik in ihrem Hotelzimmer. Zwischen ihrem jetzigen Sitzplatz und diesem Zimmer gibt es nun eine geheime Verbindung, ja, die Lektüre überbrückt diese Distanz, und wenn sie manchmal die Augen schließt, hört sie eine japanische Bambusflöte und ihre ruhigen Tonfolgen, Schritt für Schritt, in einem genau abgemessenen, übersichtlichen Raum.
13
ER BLEIBT noch eine Weile an dem weiß gedeckten Tisch unter den orangefarbenen Sonnenschirmen sitzen, es gefällt ihm hier,
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