Liebesnaehe
Brief schreiben, und sie wird das Schreiben dieses Briefes als eine weitere Szene ihres Projekts gestalten. Also los, also voran.
Sie räumt das Zimmer auf und achtet darauf, dass kein einziger Gegenstand vom Thema ablenkt. Kein Glas darf mehr auf der Tischplatte stehen, keine Blumen in einer Vase, und natürlich darf erst recht keine Schale mit Obst die Blicke auf sich ziehen. Die Möbel müssen ebenso unberührt und kahl erscheinen wie der Boden, keine Dekoration, keine Accessoires.
Sie überlegt, ob sie weiter den Morgenmantel tragen soll, ja, der Morgenmantel passt doch genau, dann stellt sie den Schreibtisch schräg vor eines der Fenster, um den Lichteinfall zu verbessern. Sie legt einige Bögen Briefpapier auf die linke Seite der leer geräumten Schreibtischplatte und entnimmt einem Schreibetui einen Stift, dessen Spitze nicht aus einer Mine, sondern aus einer dünnen, pinselartigen
Verdickung besteht. Sie legt den Stift in die Mitte des Tisches und postiert dann die Video-Kamera in einer Ecke des Zimmers. Sie schaut durch den Sucher, ja, so ist es richtig, ein eher fahles Licht fällt auf den Schreibtisch und setzt einen kleinen Akzent. Dann schaltet sie die Kamera ein und geht langsam hinüber zum Schreibtisch.
Sie setzt sich an den Tisch, sie ist jetzt eine einsame Hofdame am japanischen Kaiserhof, die einen Brief an ihren Geliebten schreibt. Sie nimmt den Stift in die Hand, wie schön er sich anschmiegt! Dann greift sie nach einem Bogen Briefpapier, fährt mit der linken Hand noch einmal glättend darüber und beginnt vorsichtig, mit dem Stift die ersten Sätze zu malen:
Das »Kopfkissenbuch« ist eine Sammlung von Aufzeichnungen der Hofdame Sei Shonagon, die am japanischen Kaiserhof lebt. Auf den ersten Blick macht Sei Shonagon diese Aufzeichnungen nur für sich, in Wahrheit aber schreibt sie für ihren Geliebten. In jeder ihrer Zeilen ist der Geliebte präsent und spürbar, obwohl sie nur selten direkt von ihm spricht. Wenn sie von schönen Kohlenbecken und Kiefernbäumen spricht, spricht sie von den Räumen, in denen sie ihren Geliebten erwartet. Wenn sie von der Schönheit der Flöte spricht, spricht sie von der Flöte, die der Geliebte spielt. Und wenn sie vom Flug der Wildgänse spricht, spricht sie davon, wie dieser Flug die Sehnsucht nach ihrem Geliebten weckt.
Sei Shonagon schreibt keine Erzählungen, sie entwirft kleine Szenen und Räume. In diesen Architekturen sitzt sie meist allein, als eine geduldige Beobachterin, die auf die unmerklichen Zeichen des Lebens achtet. Ihr Feingefühl ist nicht zu überbieten, und es erstreckt
sich auf alles Sichtbare, auf die schönen wie die hässlichen Dinge, auf die Natur wie auf die Menschen.
In der späten Nacht und am frühen Morgen schreibt sie und lauscht, ob der Geliebte kommt oder wohin er gerade gegangen ist. So trägt alles Geschriebene die Zeichen ihres Geliebten, und so ist ihr Schreiben nichts als ein Ausdruck ihres unstillbaren Verlangens.
Sie legt den Stift zur Seite und greift nach einem Briefbogen, sie hält ihn sich vor die Augen und liest, was sie geschrieben hat. Ja, diese Andeutungen reichen, so könnte es gehen. Sie schwenkt den Bogen hin und her und wartet, bis die Schrift getrocknet ist. Dann faltet sie den Bogen zusammen und steckt ihn in einen Umschlag. Sie steht auf und geht langsam auf die Kamera zu, sie schaltet die Kamera ab und atmet tief aus.
Wie spät ist es? Sie schaut auf die Uhr und stellt fest, dass der Vormittag schon fortgeschritten ist. Was wird er jetzt tun? Wird er nach seinem Bad frühstücken gegangen sein? Nein, sie kann sich nicht vorstellen, wie er inmitten von vielen anderen Menschen in dem großen Frühstücksraum sitzt. Ob er spazieren gegangen ist? Auch das glaubt sie nicht, sie vermutet vielmehr, dass er sich wie sie in seinem Zimmer befindet und sich mit seiner Arbeit beschäftigt. Aber was wäre das, diese Arbeit?
Sie verbietet sich das weitere Grübeln und Nachdenken und entschließt sich, eine Auszeit von ihrem Projekt zu nehmen. Sie legt den Morgenmantel ab und zieht sich
rasch an. Es kommt ihr jetzt nicht darauf an, welche Kleidung sie trägt, sie hat dies und das zu erledigen, und dieses Erledigen geht am schnellsten in Jeans und leichten Turnschuhen.
Wenige Minuten später gibt sie ihren Brief an der Rezeption ab und bittet eine der jungen Frauen hinter der Theke, ihn möglichst sofort an Johannes Kirchner weiterzuleiten. Dann geht sie hinüber in den Frühstücksraum, aus dem schon
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