Liebesnaehe
eine Treppe ins Tal hinunter, und er steigt sie hinauf …
Die wachsende Anziehung und die immer spürbarer werdende Nähe sollten auf den Fotografien und Filmsequenzen gut zu erkennen sein, die Intensität der Begegnungen sollte sich steigern, bis hin zu den ersten Berührungen.
Erste Berührungen?! Aber wo sollten die stattfinden? Und wie sollte sich so etwas ereignen? Und wer macht damit den Anfang? Sie? Oder er?
Was sie an dem Anblick der beiden Spaziergänger berührt, ist, dass sie sich als die dritte Figur in ihrem Bund empfindet. Ja, eigenartig, die beiden gehören eng zusammen,
sie gehen dort wie Mutter und Sohn oder wie zwei enge Verwandte. Johannes geht links von Katharina, so dass man sich vorstellen könnte, dass sie, Jule, rechts von ihr ginge. Dann wäre der kleine Bund komplett und auch nach außen gut sichtbar, eine Mutter mit ihren beiden Kindern, eine nahe Verwandte der Familie mit ihrer Nichte und ihrem Neffen.
Jedenfalls ist ihre Liebe auch mit Katharina verbunden, sie ist der ferne Fluchtpunkt aller Liebesbewegungen, das ist bestimmt kein Zufall. Irgendetwas hat Katharina mit ihnen beiden gemein, irgendeine geheime Geschichte teilen sie drei, so dass die Liebe noch durch etwas Drittes grundiert wird.
Die beiden Spaziergänger schauen nicht auf den grauen Weg, sondern blicken nach rechts und links und bleiben immer wieder stehen. Sie sieht, dass Katharina hier und da etwas erklärt, sie deutet mit der rechten Hand in die Weite der Wiesenlandschaft, sie zeigt Johannes die beiden Bussarde, die hoch über der Ebene kreisen, und sie bückt sich, als sie etwas Merkwürdiges entdeckt hat. Katharinas besondere Art des Gehens kennt sie aus eigener Erfahrung. Sie war schon oft mit ihr unterwegs, und jedes Mal wurde der gemeinsame Gang zu einer kleinen Führung. Es ist einfach erstaunlich, wie viel Katharina an den Wegrändern auffällt: Ein Stein, eine Pflanze, die Farben des Lichts – je älter sie wird, desto mehr fällt ihr auf, ja, es kommt einem so vor, als würde sie zu vielen Dingen geradezu hingezogen.
»Sieh mal!«, »schau!« – sie hat den besonderen Tonfall von Katharinas Hinweisen genau im Ohr, und sie erinnert sich an die merkwürdige Antwort, die Katharina ihr gab, als sie gefragt wurde, welche Erklärung sie dafür habe, dass ihr so viel auffalle. »Mir fällt so viel auf, weil ich den Tod bereits in mir habe«, hat sie gesagt. »Ich gehe dem Tod entgegen, weißt Du«, hat sie weiter gesagt, »auch wenn ich vielleicht das Glück habe, noch ein, zwei Jahrzehnte zu leben. Ich sterbe allmählich, ich sterbe von Tag zu Tag ein wenig mehr. Und je mehr ich sterbe, umso mehr liebe ich die kleinen Dinge am Wegrand. Ich übersehe keines von ihnen, ich nehme ununterbrochen Abschied: aufmerksam, getröstet, mit all diesen lebendigen Dingen so eng verbunden wie in meinem früheren Leben noch nie. Das ist das Merkwürdige am Alter: Dass einem die Welt immer näherkommt, dass sie alles tut, einen zu umschließen und heimzuholen.«
Sie hat Katharina gefragt, seit wann sie so empfinde, und Katharina hat geantwortet, dass es seit Georgs Tod immer mehr zunehme, dieses Wissen um den eigenen Tod und diese besondere Liebe zu den Dingen in der unmittelbaren Umgebung. Vielleicht ersetze diese Liebe zu den Dingen die frühere Liebe zu einem Menschen, und vielleicht gebe es im Leben eines jeden Menschen drei Zeiten der Liebe: Die Liebe zu den Eltern, die Liebe zu einem anderen Menschen, die Liebe zu den Dingen. Einigen Menschen gelinge es sogar, sich diese drei Zeiten und Formen der Liebe bis ans Ende ihres Lebens zu erhalten. Als Dreierbund der Liebe. Als tiefstes Glück.
Die beiden Spaziergänger kommen kaum voran, so langsam gehen sie, und so häufig bleiben sie stehen. Ein wenig haben sie auch von begeisterten Forschern, von Geologen oder Geodäten, es fehlt nur noch, dass sie einen Block herausziehen und sich etwas notieren. Johannes geht etwas schief, und außerdem geht er schlendernd, wie ein großer Junge, der viel Sport treibt. Er ist schmal, ja beinahe hager, so dass sie vermutet, dass auch er viel und gerne schwimmt. Dagegen kann sie sich einfach nicht vorstellen, dass er rasch und ausdauernd läuft. Nein, auf keinen Fall, einer wie er ist kein Läufer, geschweige denn ein Jogger, nein, so etwas würde Johannes nie machen.
Manchmal bringt sie seine Gestalt auch mit einem Musikinstrument in Verbindung, er könnte Saxophon oder Klarinette spielen, ja, das wäre möglich, auch an ein
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