Liebesnaehe
gehört, aber wir haben auch viel Blödsinn gemacht. Sie hatte damals so eine Art Altershumor, sie konnte über vieles, was sie früher sehr ernst genommen hatte, ganz entspannt lachen.
– Und weiter? Wie ging es weiter?
– Tja, mit mir ging es nicht richtig weiter. Ich war viel unterwegs, ich habe mich irgendwie beschäftigt und abgelenkt,
und ich habe um mein Elternhaus einen großen Bogen gemacht.
– Du hast Dir nichts anmerken lassen, Johannes, ich habe von alldem nicht das Geringste geahnt.
– Ich weiß, ich bin ein Meister in der Kunst, sich nichts anmerken zu lassen. Ich weihe niemanden in meine Geschichten ein, ich trage alles nur mit mir selbst aus, so bin ich, das ist nun mal so.
– Manchmal bist Du zwei-, dreimal in der Woche in die Buchhandlung gekommen, dann warst Du wieder für Wochen verschwunden. Und nie hast Du von Deinen Reisen und Abwesenheiten erzählt.
– Stimmt, ich habe nie davon erzählt.
– »Wo warst Du? Warst Du verreist?« – ich habe Dich das manchmal gefragt, und jedes Mal hast Du nur gesagt, Du seist auf Lesetour gewesen und über Lesetouren gebe es nichts zu erzählen, denn Lesetouren seien alle gleich und vollkommen prosaisch.
– Richtig, das habe ich gesagt, denn ich wollte um keinen Preis darüber sprechen, wie es mir ging. Manchmal habe ich nach den Lesungen allein in meinem Hotelzimmer gesessen und nur noch gedacht: Gott, lass es zu Ende gehen, ich kann und möchte nicht mehr.
– So schlecht ging es Dir? Das verblüfft mich jetzt sehr. Du warst so neugierig und hast Dich für so viele Themen interessiert, ich konnte Dir ja gar nicht genug Bücher empfehlen.
– Ja, ich habe sie richtiggehend in mich reingefressen, ich habe so viel gelesen wie noch nie, denn ich war ganz erfüllt von der Panik, in einer toten Stunde an mein Zuhause und meine Mutter erinnert zu werden.
– Vielleicht hätte es Dir geholfen, mit mir darüber zu sprechen.
– Nein, andersherum: Es hat mir geholfen, mit Dir nicht darüber zu sprechen. Du warst meine wichtigste Gesprächspartnerin, denn anders als einige meiner Freunde und Bekannten wusstest Du nichts von den Hintergründen meines Lebens. Heute erscheint es mir so, als hätte ich mit Dir all die Gespräche fortgesetzt, die ich mit meiner Mutter vor ihrem Tod geführt hatte.
– Wir haben besonders schmerzliche Themen nur selten berührt.
– Eben. Wir haben uns mit guter Laune angesteckt, und wir haben uns aus todernsten Büchern so vorgelesen, dass uns vor Lachen die Tränen kamen. Wir hatten beide ein Faible für Komik und Parodie, manchmal waren wir ja sogar richtig albern …
Katharina redet nicht weiter, da der Kellner das Essen bringt. Die Sauren Lüngerl liegen in einem tiefen weißen Teller, in dessen Mitte zwei kleine Semmelknödel thronen. Er wünscht einen guten Appetit, Johannes verteilt Löffel und Servietten, und dann rücken sie beide ihre Stühle näher heran an den Tisch und beginnen, langsam zu essen.
– Soll ich weitererzählen? fragt er.
– Ja, erzähl weiter. Schmeckt Dir das Essen?
– Es schmeckt sehr gut. Ich mag es ja nicht, wenn die Lüngerl zu sehr nach Essig schmecken, hier aber schmecken sie nach Wein und sind außerdem etwas scharf.
– Sie tun Chili hinein, und sie kochen die Lüngerl tatsächlich
mit Wein. Wichtig sind auch gute Zwiebeln, sie verwenden hier rote Zwiebeln und etwas Thymian. Aber jetzt erzähl weiter.
– Ich habe über zwei Jahre gebraucht, um wieder den Weg in mein elterliches Zuhause zu finden. Irgendwann half keine Ablenkung mehr, keine Lektüren, keine Lesereisen, irgendwann war ich so am Ende, dass ich keine Zeile mehr schreiben konnte.
– Du hast während dieser starken Trauer-Phase geschrieben?
– Ich habe nichts Großes geschrieben, ich habe nur alle paar Tage einige Erinnerungen an die letzten Jahre mit meiner Mutter notiert. Ich schaffte immer nur höchstens zwei Seiten, dann musste ich aufhören. Aber ich brauchte diese Texte, sie betäubten die Trauer, und sie erleichterten mir das Weiterleben. In dieser Manier konnte es aber nicht weitergehen. Ich wollte kein Buch über meine Mutter und erst recht nicht über ihren Tod schreiben, ich machte die Notizen doch nur für mich. Sie gingen niemanden etwas an, sie waren vollkommen privat und intim. Um einen neuen Stoff anpacken zu können, musste ich mich von meinen Erinnerungen befreien. Aber wie?
– Ich weiß es, Johannes, ich weiß genau, was Du getan hast.
– Und was habe ich getan?
– Du bist zurück
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