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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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mittags aber nie, mittags gehe ich ja meist eine Runde spazieren, und nach einem solchen Spaziergang gibt es nichts Besseres als ein eiskaltes Bier. Habe ich recht?
    – Absolut. Man geht ja überhaupt nur länger spazieren, um den Durst so richtig anzufachen und dann ein oder zwei Bier zu trinken. Das Spazierengehen und das Biertrinken gehören zusammen, während das Weintrinken nicht zum Spazierengehen gehört, sondern zum Flanieren. Wer flaniert, bleibt hier und da stehen, schaut sich um, kostet, probiert, nimmt hier einen kleinen Schluck und dort – das ist das Tempo der Weintrinker. Es ist ein Flaneur-Schluck-Tempo, das Tempo der Biertrinker dagegen
ist die gedehnte Zeitlupe des langen, unermüdlichen Sitzens. Wie viel Zeit haben wir denn jetzt?
    – Ich muss spätestens in zwei Stunden wieder in der Buchhandlung sein, aber Du kannst Dir Zeit lassen, auf Dich wartet doch niemand.

    Er greift nach den Speisekarten und reicht eine von ihnen an Katharina weiter. Dann sagt er leise:
    – Auf mich wartet jemand, Katharina, ich bin nicht mehr allein.

    Sie schaut nicht auf, als sie diesen Satz hört. Sie blättert in der Karte und schweigt. Dann beugt sie sich zu ihm vor und sagt:
    – Saure Lüngerl, wäre das nicht etwas für uns?
    – Saure Lüngerl? Das ist perfekt, da mache ich mit!
    Der Kellner bringt das Bier und nimmt ihre Bestellung entgegen, dann stoßen sie an und trinken beide einen großen Schluck.

    – Wie steht’s? fragt sie. Wollen wir über Dein Projekt sprechen?
    – Ja, ich möchte darüber sprechen, antwortet er, aber ich muss etwas ausholen.
    – Ich höre zu, ich bin gespannt, sagt sie und lehnt sich wieder etwas zurück.

    Er sammelt die Speisekarten ein und legt sie zur Seite, dann nimmt er einen Bierdeckel in die rechte Hand und dreht und wendet ihn langsam hin und her. Sie schaut ihm nicht zu, sondern blickt kurz hinauf in das leicht
bräunlich werdende Blattwerk der Kastanie, durch das sich noch einige Sonnenstrahlen hindurchzwängen.

    – Erinnerst Du Dich? Wir haben davon gesprochen, dass wir uns lange Zeit kaum über ein privates Thema unterhalten haben …
    – Ja, ich erinnere mich gut.
    – Und Du hast von den Eindrücken erzählt, die Du von mir hattest, als ich Dich damals in Deiner Buchhandlung besucht habe.
    – Ja, ich erinnere mich.
    – Du hast erzählt, dass ich einen dunklen Mantel getragen und Dir den Rücken zugekehrt habe, und Du hast weiter erzählt, dass ich nicht ansprechbar gewesen sei.
    – So war das, ja, genau so war das.
    – Ich habe Dir damals verschwiegen, dass ich den dunklen Mantel trug, weil meine Mutter gerade gestorben war. Als ich in Deine Buchhandlung kam, war sie kaum eine Woche tot. Ich war die letzten Wochen ihres Lebens mit ihr zusammen, ich habe sie in meinem Elternhaus bis zuletzt betreut und gepflegt. Als sie starb, war ich mit ihr allein, ich habe ihren Tod beinahe nicht überstanden, ich hätte mich beinahe auch hingelegt, um zu sterben.

    Er dreht den Bierdeckel weiter in der Rechten und schweigt. Sie schaut ihm zu und sagt ruhig:
    – Erzähl weiter, Johannes …

    Er zögert eine Weile und fährt dann fort:
    – Es war ein sonniger Tag Anfang Mai, sie starb gegen
Mittag. Als es vorbei war, blieb ich noch eine Weile neben ihrem Bett sitzen, dann ging ich hinaus, ins Freie. Der große Garten meines Elternhauses stand in voller Blüte, es war eine einzige Pracht, ein unglaublicher Duft und eine Farbigkeit, die etwas Betörendes, Hinreißendes hatte. Ich konnte mir das alles nicht anschauen, es war zu viel, ich verließ das Grundstück, und als ich noch einmal zurückschaute, kam mir der Gedanke, das gesamte Gelände einige Zeit sich selbst zu überlassen. Ich spürte, dass ich dort nicht würde leben können, ja, ich spürte genau, dass mich die Trauer ersticken würde. Ich habe die Beerdigung noch abgewartet, dann habe ich einige große Koffer mit meinen Siebensachen gepackt, habe das Haus abgeschlossen und mich davongemacht.
    – Dein Vater lebte nicht mehr?
    – Nein, mein Vater war schon beinahe zehn Jahre tot.
    – Und Geschwister hast Du keine?
    – Nein, ich habe keine Geschwister.
    – Du hast sehr an Deiner Mutter gehangen?
    – Ja, das habe ich. Wir waren zeitlebens ein gutes Paar, wenn Du verstehst, was ich meine. Als sie im Alter allein war, sind wir durch halb Deutschland gereist, und ich habe sie oft besucht und bin dann immer einige Zeit bei ihr geblieben. Wir haben zusammen gekocht, ich habe ihr vorgelesen, wir haben Musik

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