Liebesnaehe
den Schreibtisch und öffnet zwei der großen Fenster, durch die man auf die hinter dem Hotel ansteigende Bergkette schaut. Sie streift das asiatische Kleid vorsichtig über den Kopf und hängt es in den Kleiderschrank,
sie zieht eine weiße Bluse und Jeans an und wechselt auch noch die Schuhe, dann setzt sie sich und macht sich einige Notizen zu ihrer Lektüre.
Später trinkt sie ein Glas Wasser und schneidet sich etwas Obst zurecht, sie legt es, klein geschnitten, auf einen winzigen Teller. Sie nimmt ihn in die Hand und tritt an eines der Fenster, sie schaut hinaus, das Spätsommerlicht des Nachmittags liegt noch schwer und leuchtend auf den hingestreckten Wiesen, während die Bergspitzen schon langsam ergrauen.
Sie kennt die nähere Umgebung des Hotels gut, sie ist oft allein durch dieses Gelände gegangen, meist nicht allzu lang, zwei oder drei Stunden haben ihr gereicht. Unten im Tal spielen einige Gäste Tennis, und noch etwas weiter entfernt ist der große, rechteckige Pool zu erahnen, in dem sie gestern nach ihrer Ankunft geschwommen hat. Über das gesamte angrenzende Terrain verstreut gibt es außerdem noch viele weitere Sportanlagen. Volleyball, Basketball – man kann das alles dort unten im Tal spielen, vor allem für Kinder sind lauter Geräte und Gerüste aufgebaut, die jetzt aber leer stehen, anscheinend sind die Kinder an diesem schönen Nachmittag noch mit ihren Eltern unterwegs.
Ein kleines Nadel-Wäldchen schließt das weite Gelände zur Rechten hin ab, seltsam, dorthin ist sie niemals gegangen, sie ist immer an dem Wäldchen vorbei in die Weite und hinunter zum Bach gelaufen. Das sprudelnde Wasser des Bachs hat sie angezogen und begleitet, an ihm
entlang ist sie meist unterwegs gewesen, um an seinen Rändern ein paar der vielen Details zu entdecken, die Katharina in einem solchen Gelände auffallen würden.
Von ihrem Hotelfenster aus wirkt das dunkle Wäldchen wie ein Schutzzaun oder wie ein Sperrriegel, jedenfalls markiert es eine Grenze, so dass man nicht erkennen kann, was sich darin oder gar dahinter befindet. Direkt in der vordersten Reihe der Fichten scheint ein kleines, verstecktes Holzhaus zu stehen, auch dieses Haus hat sie noch nie bemerkt. Ist es ein Gerätehaus, das noch benutzt wird, oder steht es leer? Das Braun des Holzes ist schon stark eingedunkelt, und die Fensterrahmen sind schwarz gestrichen, als sollte das Haus ganz zurücktreten und nicht weiter bemerkt werden. Irgendetwas Anziehendes hat der kleine Bau, sie isst das Obst auf, nimmt noch einen Schluck Wasser, packt den Fotoapparat in eine kleine Tasche und verlässt das Zimmer.
Sie hat es jetzt eilig, sie nimmt nicht den Lift, sondern springt die große Freitreppe hinunter bis ins Foyer. Sie winkt den properen Mädchen an der Rezeption zu und will rasch an ihnen vorbei, doch als sie eifrig zurückwinken, kommt ihr ein Gedanke. Sie macht kurz halt und läuft zu ihnen hinüber:
– Sagen Sie, gibt es eine kleine Karte der näheren Umgebung?
– Natürlich, die gibt es, antwortet eine der jungen Frauen, es gibt eine kleine Wanderkarte, man kann sich einfach nicht mehr verlaufen.
– Zeigen Sie doch mal!
Die junge Frau holt die Karte aus einem Fach unter der Rezeptionstheke hervor, breitet sie aus und streicht sie mit der Kante der rechten Hand glatt.
– Suchen Sie etwas Bestimmtes?
– Das kleine Wäldchen ganz am Rand der Sportanlagen, wo ist es?
– Sie meinen das Fichtenwäldchen? Hier, das Wäldchen ist hier.
– An seinem vorderen Rand steht ein Holzhaus, das ist aber nicht auf der Karte.
– Ein Holzhaus? Was für ein Holzhaus?
– Sie wissen nicht, dass dort ein Holzhaus steht?
– Nein, ich kann mich nicht daran erinnern.
Die junge Frau reckt sich auf und fragt ihre Mitarbeiterinnen:
– Mädels, sagt mal, könnt Ihr Euch an ein Holzhaus unten am Rand unseres Fichtenwäldchens erinnern?
Sie wiederholt die Frage zwei-, dreimal, aber niemand kann sich an ein Holzhaus erinnern.
– Es kann sein, dass es dem früheren Gärtner gehörte, sagt die junge Frau schließlich. Ich habe einmal gehört, dass der frühere Gärtner unten im Tal gewohnt hat, aber das ist schon einige Zeit her. Der neue, junge Gärtner wohnt dort jedenfalls nicht mehr, das weiß ich genau.
Sie bedankt sich für die Auskunft und steckt die Karte ein. Dann verlässt sie das Hotel und macht sich auf den Weg zu dem Fichtenwäldchen, das ihr von ebener Erde
aus noch dunkler und geschlossener erscheint als von ihrem Fenster
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