Liebesnaehe
in Dein Elternhaus gegangen, Du hast Dich wieder dort eingerichtet.
– Richtig, ich bin zurückgegangen, mit all meinen Siebensachen. Und ich bin wieder in ein Haus eingezogen, das seit dem Tod meiner Mutter vollkommen unverändert war. Der Anblick der Räume war kaum zu ertragen,
sie wirkten, als hätten sie sich vollgesogen mit dem Leben meiner Eltern und als speicherte jeder Gegenstand Hunderte von Erinnerungen. Als ich etwa zwei Wochen dort gelebt hatte, begann ich aus reiner Verzweiflung damit, das Haus komplett zu leeren. Ich bin ganz systematisch vorgegangen, Zimmer für Zimmer, ich habe alles nach draußen getragen und auf einen Laster geladen und dann in eine nahe Scheune gebracht, die ich als Möbellager benutzte. Ich habe beinahe sechs Wochen für diesen Auszug gebraucht, am Ende war das Haus vollkommen leer. Ich habe neue Böden verlegen und die Wände neu streichen lassen, und dann habe ich das Haus neu möbliert und mir ein großes Arbeitszimmer im Sterbezimmer meiner Eltern eingerichtet. Wochenlang habe ich mit kaum einem Menschen gesprochen, ich war wie gefangen vom Leeren und neuen Möblieren des Hauses, ich wollte es unbedingt allein schaffen, denn ich hatte die fixe Idee, dass ich danach wieder würde schreiben können.
– Aber Du hast Dich geirrt, nicht wahr? Das Haus und die Erinnerungen haben Dich nicht freigegeben.
– Ja, Katharina, ich habe mich geirrt, ich habe mich, verdammt noch mal, ganz furchtbar geirrt.
Er schiebt den leeren Teller von sich fort, dann steht er auf.
– Trinkst Du noch ein Glas mit?
– Ja, gern, bestell mir auch noch eins.
Er geht zwischen den eng beieinanderstehenden Tischen und Stühlen des Biergartens hindurch zum hinteren Eingang des Gasthofes. An den einfachen Holztischen drinnen sitzt kein einziger Gast. Er begegnet dem Kellner
und bestellt noch zwei große Helle, dann geht er hinab, zu den Toiletten im Keller. Als die Toilettentür sich hinter ihm schließt, blickt er in den Spiegel. Sein Gesicht ist vom Spazierengehen in der starken Spätsommersonne leicht gebräunt, er wirkt gut erholt, niemand, der dieses Gesicht sieht, würde vermuten, dass er sehr unruhig ist. Er öffnet das kleine Toilettenfenster und blickt hinaus auf eine schlichte Wiese mit einigen Pferden. Vor dem nahen Waldsaum steht eine kleine Kapelle, das Bild ist irritierend idyllisch. Er schlägt sich mit dem Handballen zwei-, dreimal gegen die Stirn, als müsste er sich zur Raison rufen. Dann geht er langsam in das Pissoir, öffnet seine Hose und schaut zu, wie der starke, gelbe Strahl in die Öffnung des Beckens schießt.
Als es vorüber ist, bleibt er noch eine Weile stehen. Von draußen hört man das Schnauben eines Pferdes. Er schließt die Augen und stellt sich das eben gesehene Bild noch einmal vor: Eine schräg gegen den Waldsaum ansteigende Wiese, eine kleine Kapelle und eine Gesellschaft von Pferden. Dann geht er zum Waschbecken zurück, wäscht sich die Hände und trinkt einen Schluck Wasser aus der hohlen Hand. »Verdammt noch mal«, sagt er leise, dann kehrt er zu Katharina zurück.
– Erzähl mir doch noch etwas genauer von Deinem Projekt, sagt sie, als er Platz genommen hat.
– Das Problem besteht darin, antwortet er, dass überhaupt kein richtiges Projekt entstehen will. Ich habe eine Idee, ja, ich habe sogar viele Ideen, und ich beginne dann auch mit dem Schreiben. Kaum habe ich aber begonnen,
spüre ich einen Sog, der von meinem Elternhaus und vom Tod meiner Mutter ausgeht. Es ist, als käme ich an diesen Erinnerungen und Bildern überhaupt nicht mehr vorbei, ja, es ist beinahe so, als wollten sie mich zwingen, in einem Buch festgehalten zu werden. Ein Roman über mein Elternhaus? Ein Roman über den Tod meiner Mutter oder über die letzten Tage und Wochen mit ihr? Nein, nein und nochmals nein, ein solches Buch will ich nicht schreiben, und doch habe ich das Gefühl, kein anderes Projekt anpacken zu können, bevor ich nicht genau ein solches Buch geschrieben habe, verstehst Du?
– Aber ja, ich verstehe genau.
– Und? Was sagst Du dazu?
– Ich muss länger darüber nachdenken, ich muss mir das alles einmal genau durch den Kopf gehen lassen. Ich habe mit einer solchen Geschichte überhaupt nicht gerechnet, ich habe gedacht, es ginge um irgendein kleines Detail. Früher hast Du manchmal von solchen Details erzählt, und meist ging es um bestimmte Formulierungen, für die wir dann zusammen eine Alternative gesucht haben, bis wir zufrieden waren und die
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