Liebesnaehe
aus.
Sie überquert eine Wiese und läuft einen schmalen Pfad hinab ins Tal. Auf halber Höhe zweigt ein weiterer Pfad ab und führt in mehreren Serpentinen auf eine kleine Anhöhe, von der aus sie über ein anderes Wiesengelände schließlich das Wäldchen erreicht. Sie geht zu dem Holzhaus, es ist ein massives, großes Blockhaus mit einem schiefergedeckten Walmdach. Sie schaut durch ein Fenster hinein, der rechteckige Raum hat einen schönen Dielenboden, auch die Wände sind mit einem hellen, in der Nachmittagssonne leicht aufleuchtenden Holz verkleidet. In der rechten hinteren Ecke befindet sich anscheinend ein Kamin, sonst aber ist der Raum vollkommen leer.
Sie versucht, die Tür zu öffnen, und ist etwas verblüfft, dass sie sich wahrhaftig leicht öffnen lässt. Sie schaut sich kurz um, dann schleicht sie langsam hinein und schließt die Tür sofort wieder. Drinnen ist es sehr warm und etwas stickig. Es riecht fremd, ein wenig nach Weihrauch, aber auch nach Wein, sie atmet den angenehmen Duft ein und geht hinüber, zur hinteren Wand, wo sie sich auf den Boden setzt und den Raum genauer studiert.
Schaut man nach rechts, so sieht man durch die kleinen Fenster die höchsten Regionen der Bergkette, wie eine feine, von einem Maler gezogene Horizontlinie. Schaut man nach vorn, so blickt man auf den zentralen Flügel des Hotels und auf die große Freifläche mit den orangefarbenen Sonnenschirmen. Schaut man nach links, so
erkennt man das weite, sich in die große Ferne öffnende Grün des Wiesengeländes. Und dreht man sich um die eigene Achse und schaut nach hinten, so verliert sich der Blick im Dunkel des Fichtenwäldchens, in das die Sonne noch die Spitzen der letzten Strahlen wirft.
Sie ist von dem schlichten Raum und den Perspektiven, die sich von ihm aus eröffnen, sofort bezaubert. Sie holt die Kamera heraus und beginnt, den Raum von allen Seiten zu fotografieren. Sie liegt dabei auf dem Boden und fotografiert von schräg unten, das ist der Blick, den sie sich vorstellt, um diesen Raum zu erfassen, es ist ein Lager- und Bettenblick, ja, diesen Raum erlebt man am stärksten vom Boden aus, dann nämlich umkreist einen das ganze Panorama dieser entlegenen Insel, dass einem beinahe schwindlig wird.
Ihr Herz klopft, sie hat das Gefühl, den zentralen Raum des gesamten Geländes und zugleich ihren eigenen Raum gefunden zu haben, ja, das ist er, einen Raum wie diesen hat sie sich immer gewünscht, er lässt selbst das schöne Zimmer, das sie im Hotel bewohnt, weit hinter sich. Zum einen wirkt er freundlich und heiter, wie ein Gartenhaus, in das man sich den Sommer über zurückzieht. Zum anderen aber erscheint er auch wie ein kleines, in sich geschlossenes Reich und damit wie eine hermetische Zone, die nicht jeder betreten darf.
Warum wohnt hier niemand? Warum hat noch niemand diesen Zauber entdeckt?
Als sie sich das fragt, weiß sie auch schon, was sie als Nächstes tun wird. Sie wird ihre japanischen Mitbringsel in diesen Raum hinüberbringen und ihn damit ausstatten, als wäre er eine kleine, abgelegene Asien-Oase. Altjapanische Musik wird sie hier hören und in den Büchern lesen, die Katharina ihr geschenkt oder geliehen hat. Und sie wird ihn empfangen, in diesem Raum wird sie den Geliebten erwarten und ihn empfangen.
Wann?! Wann könnte das alles geschehen?! Morgen, morgen wird es geschehen! Sie wird den heutigen frühen Abend nutzen, um schon einige Sachen hier hinüberzutragen, ja, sie wird sofort damit beginnen, den Raum etwas einzurichten.
Die Vorhänge! Erst jetzt bemerkt sie die dunkelroten, kleinen Vorhänge zu beiden Seiten der Fenster. Sie steht auf und zieht sie nacheinander zu, dann setzt sie sich wieder auf den Boden, in die Mitte des Zimmers. Sie schließt die Augen, es ist unglaublich, wie stark und konzentriert dieser Raum wirkt: Die hellen, glatten Wände, die dunklen Fensterkreuze, der mattbraune Dielenboden!
Sie steht auf und entkleidet sich. Dann legt sie sich wieder auf den Boden und rollt sich von einer Seite des Raums zur anderen, langsam, hin und her. Sie nimmt diesen Raum in Besitz, es ist jetzt ihr Raum, dieser Raum war die ganze Zeit dafür bestimmt, der Raum ihrer Liebe zu werden!
Sie bleibt eine Weile liegen, sie wird wieder ruhiger und versucht, die nächsten Schritte zu durchdenken. Was
sollte sie jetzt tun? Wie kann sie es schaffen, ihren Traum möglichst mühelos und schnell zu verwirklichen? Am einfachsten wird es sein, Katharina anzurufen und sie zu fragen,
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