Liebesnaehe
denen anscheinend jemand mit feiner, dünner Handschrift etwas notiert hat.
Er nimmt die Hände vom Lenkrad, der Wagen fährt jetzt von allein und rollt in der Nähe seines Elternhauses langsam
aus. Er blickt zur Seite, ja, seine Mutter steht im geöffneten Küchenfenster und winkt ihm zu. Aus dem Küchenraum heraus dreht sich eine schwere Dampfwolke ins Freie. Mutter hat längst gekocht, sie hat mit dem Essen auf ihn gewartet.
Als er aussteigt, öffnen sich die hinteren beiden Türen des Wagens, und das gesamte Gepäck kollert heraus. Er achtet nicht weiter darauf, sondern geht sofort hinunter zur Haustür. Seine Mutter öffnet ihm und schließt ihn in ihre Arme. »Es ist alles für Dich reserviert«, sagt sie, »nur für Dich!«
Er stolpert ins Haus und verliert seine beiden Schuhe, da sieht er, dass seine Mutter barfuß geht. Er streift seine Strümpfe ab und öffnet die obersten Knöpfe seines Hemdes. »Musik?« fragt seine Mutter, wartet seine Antwort aber nicht ab, sondern schnippt nur kurz mit den Fingern. Aus dem Hintergrund erklingt Cello-Musik, die Cellisten der Berliner Philharmoniker spielen Paris-Melodien. »Das magst Du doch so!« sagt seine Mutter, und er antwortet: »Wo ist mein Cello?«
Mutter zieht ihn jetzt in die Küche. »Cello? Du spielst doch gar kein Cello, Du spielst doch Klarinette!« sagt sie und lacht, und dann erzählt sie davon, dass er am Abend ein Konzert geben wird. Draußen im Garten, es ist schon alles vorbereitet. »Vor Konzerten isst Du doch immer so gerne ein Rumpsteak«, sagt seine Mutter, und dann nehmen sie beide am Küchentisch Platz und essen jeder ein großes Rumpsteak. »Salat?« fragt seine Mutter, und er
schüttelt den Kopf. »Das wusste ich, dass Du keinen Salat magst«, sagt sie, »deshalb habe ich auch erst gar keinen gemacht.«
Sie lacht wieder, und auch er muss plötzlich lachen. »Salat ist Scheiße!« sagt er, und sie antwortet »Na-na …, aber recht hast Du!« Er isst schnell, ja beinahe hastig, er verschlingt das dunkelbraune, glänzende Stück Fleisch, aus dem lange Rinnsale roten Bluts strömen. »Lecker«, sagt er, »verdammt lecker! Und genau richtig!« »Jupheidi, jupheida!« sagt seine Mutter und lacht wieder. Er trinkt ein Glas Mineralwasser und rülpst. »Bravo!« sagt seine Mutter.
Er steht auf, er muss sich jetzt hinlegen, gleich wird er von einem Notarzt untersucht. »Wann kommt der Notarzt?« fragt er. Seine Mutter lacht. »Er kommt, wenn Du ausgeschlafen hast. Schlaf aus! Erhol Dich! Ich schleppe schon mal Dein Gepäck ins Haus.« »Neinnein, das geht nicht«, antwortet er, »das mache ich später.« »Ruhe!« sagt seine Mutter, und er erschrickt so, dass er sofort ruhig ist.
Er geht hinauf in sein Kinderzimmer. In einer Ecke ist das Bett schon gerichtet. Die Bettdecke ist zurückgeschlagen, und auf dem Kopfkissen liegt eine in Staniol verpackte Süßigkeit. Neben dem Bett stehen große Stapel von Büchern. »Bitte rasch und gründlich lesen!« steht auf einem Zettel, der obenauf liegt.
Ihm ist etwas übel, deshalb legt er sich sofort ins Bett, ohne noch ein weiteres Kleidungsstück auszuziehen.
Draußen hört man lautes Gemurmel, anscheinend treffen schon die ersten Konzertgäste ein. Er kann jetzt nicht schlafen, das Gemurmel macht ihn nervös. Er kratzt sich am Hals, er wird immer nervöser. »Niemand spielt Gershwin so gut wie er!« sagt draußen jemand, und er bekommt sofort Schüttelfrost. »Nach dem Konzert geht er auf Tournee!« sagt jemand anderes, und eine helle Frauenstimme ruft: »Ich freue mich schon auf seinen Vortrag!«
Neben der Tür seines Kinderzimmers leuchtet plötzlich ein rotes Licht auf. »Der Notarzt ist da, jupheidi, jupheida!« ruft eine Kindergruppe. Die Tür öffnet sich, und der Notarzt kommt rasch herein. Er lacht und sagt: »Ich habe Ihrer Frau Mutter bereits ausgerichtet, dass Sie vollkommen gesund sind. Ich kenne kaum jemanden in Ihrem Alter, der so aktiv und gleichzeitig noch so gut drauf ist. Nichts kann Ihnen etwas anhaben, gar nichts! Sie haben eine richtige Bauernnatur, Sie wirft nichts um. Mahlzeit! Prost! Und auf Wiedersehen! Ich freue mich auf Ihr Konzert! Und auch Ihr Vortrag über Gershwin soll ja sensationell sein! Meine Frau ist richtiggehend in Sie verknallt, Sie verstehen, was ich meine. Wenn ich sie mal für ein paar Tage loswerden will, schicke ich sie Ihnen per Luftpost, haha! Machen Sie sich eine schöne Zeit mit ihr, ich zahle die Spesen.«
Der Arzt verschwindet wieder, es
Weitere Kostenlose Bücher