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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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hat, Woody-Allen-Filme zu träumen. In diesen Träumen erscheinen regelmäßig seine Mutter und sein
Vater, und regelmäßig geht es in ihnen vor allem darum, dass er etwas Schreckliches, ihn Überforderndes leisten muss.

    Auch sein heutiger Traum ist von Spuren seines Woody-Allen-Träumens durchzogen, ohne Frage, er erklärt es sich inzwischen so, dass er in dieser Woody-Allen-Manier besonders dann träumt, wenn er die Klarinette einige Zeit nicht gespielt hat. Die Klarinette will gespielt werden, sie rächt sich an ihm und schmuggelt sich in seine Träume, wo sich dann alles nur ums Klarinettenspiel dreht.

    Er schließt die Augen und konzentriert sich ganz auf die Schwimmbewegung, er fühlt sich leichter und leichter. »Schick Woody doch mal bei uns vorbei!« sagt seine Mutter, und er antwortet: »Psst.« Er dreht sich wieder auf den Rücken und starrt in den eindunkelnden Himmel, wo die ersten kleinen Sterne aufglimmen. Er versucht, einige Sternbilder zu erkennen, und genießt es, wie die Himmelsbilder durch seine Schwimmbewegung zu bewegten Filmbildern werden. »Psst«, denkt er noch einmal, dann hat er das Gefühl, es gäbe nur noch den Himmel, seine gleichmäßige Bewegung und die weiten Atmosphären von Wasser, Luft, Nacht.

    Als er langsamer wird, hält er sich am Beckenrand fest und steigt aus dem Wasser. Die Luft ist jetzt kühl. Er findet in einer kleinen Bude ein Handtuch und trocknet sich ab. Dann kleidet er sich wieder an und steigt hinauf, zur Freifläche des Hotels, dessen großes Familien-Restaurant
längst mit Gästen überfüllt ist. »Dort essen wir aber auf keinen Fall«, sagt seine Mutter. »Ich drehe noch eine Runde«, sagt sein Vater.

    Er betritt das Hotel durch einen Seiteneingang und findet einen versteckten Zugang zu einem Lift. Er möchte jetzt nicht gesehen werden. Mit seinem breiten Rucksack kommt er sich ein wenig vor wie ein Jäger, der von der Jagd im Gebirge mit einem erlegten Stück Wild zurückkommt.

    Er erreicht sein Zimmer, öffnet die Tür und geht hinein. Er wirft den Rucksack zur Seite und wechselt das Hemd.

    Dann holt er seine Klarinette hervor und beginnt, leise zu spielen.

26
    SIE SITZEN zusammen im türkischen Bad, sie haben sich vorher entkleidet und in blaue Leinentücher gewickelt, die die Brust gerade noch bedecken und bis zum Boden reichen. Sie sitzen in einer der Nischen in der lang gestreckten Säulenhalle und trinken starken Tee.
    – Schau mal, sagt Katharina, das ist das Foto vom Gärtnerhaus, von dem ich heute Nachmittag gesprochen habe. Es zeigt den Zustand des Raums wenige Tage nach dem Tod des alten Gärtners. Der Raum ist fast leer, es gibt
nur sehr wenige Dinge: Eine schmale Liege, einen rechteckigen Tisch mit einem Stuhl vor einem Fenster, einen runden Tisch mit zwei Stühlen auf der anderen Seite, einen alten Lesesessel und einen Bauernschrank. Kein Radio, kein Fernsehen, nichts. Gegessen hat er im Hotel, zusammen mit der Küchenbelegschaft, und gewaschen hat er sich ebenfalls im Hotel, in den Bädern im Tiefgeschoss. Der Raum des Gartenhauses war sein Rückzugsort, den niemand betreten durfte – außer einigen Verwandten, die ihn selten und nie zu mehreren besuchten. Dann servierte er seinem Gast an dem kleinen runden Tisch etwas Tee, aber niemals Kaffee und erst recht keinen Kuchen. Auch er selbst trank in seiner Enklave während des Tages ausschließlich Tee und abends Wein, also weder Kaffee, Bier noch ein anderes Getränk, selbst kein Wasser. Geschmückt war der Raum mit vielen Blumen, da siehst Du, überall stehen kleine Vasen und winzige Blumenkästen, im ganzen Raum duftete es wie in einem Treibhaus, aber nicht stickig, sondern frisch und belebend.
    – Aber womit hat er sich abends die Zeit vertrieben?
    – Ja, schau genau hin. Hier, an der hinteren Längsseite des Raums, verläuft ein kleines Regalbrett, auf dem sich etwa fünfzig Bücher befinden. Diese fünfzig Bücher waren seine einzige Unterhaltung, er hat immer wieder in ihnen gelesen und die Sammlung weder verkleinert noch vergrößert. Und auf beiden Seiten der kleinen Bücherreihe steht jeweils, schau ganz genau hin, eine Schwarz-Weiß-Postkarte. Eine Postkarte zur Linken, eine zur Rechten, gleichsam als Rahmung und Abschluss der Bücherreihe. Als ich mir die beiden Karten genauer anschaute, haben sie mich besonders verblüfft, ja, wahrhaftig, diese beiden
Karten waren eine wirkliche Entdeckung. Plötzlich verstand ich, was für ein Mensch der alte Gärtner war. Niemand wusste

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