Liebesnaehe
wird leiser, schließlich hört er einen Gongschlag. Die Tür öffnet sich, und sein Vater kommt im Bademantel herein. Er hält ein paar Boxhandschuhe in der rechten Hand und sagt leise: »Steh
auf, Junge! Es geht in die erste Runde! Schlag zu, lass Dir nichts bieten!« Er steht auf und lässt sich die Handschuhe überstreifen. Dann tänzelt er auf der Stelle, wie es ihm Cassius Clay vor vielen Jahren beigebracht hat. »Ich bin bereit!« sagt er zu seinem Vater.
Es wird plötzlich sehr dunkel, sein Vater begleitet ihn hinaus auf den kleinen Balkon. Die Konzertgäste schreien vor Begeisterung über sein Erscheinen laut auf. Er hebt beide Fäuste, aber sein Gegner ist noch nicht erschienen. »Es ist Montag, weißt Du«, sagt sein Vater, und er antwortet: »Natürlich, es sieht ganz nach Montag aus.«
Dann verschwimmen die Bilder vor seinen Augen …
Als er erwacht, sind die Pferde von der kleinen Koppel verschwunden. Er richtet sich auf, sein Rücken schmerzt. Neben ihm im Gras liegt sein Rucksack, er öffnet ihn und nimmt eine Wasserflasche heraus. Er trinkt etwas Wasser und steckt die Wasserflasche wieder zurück. Im Innern des Rucksacks stößt sie gegen ein Buch, das er mitgenommen hat. Jule Danner hat es am Vormittag während der Begegnung in der Bibliothek gegen das Reise-Tagebuch des japanischen Wanderdichters getauscht. »Die letzten Tage meines Vaters« – er liest den Titel und überfliegt den Klappentext. Nein, er kann jetzt auf keinen Fall in diesem Buch lesen, schon der Titel löst eine leichte Panik bei ihm aus.
Er steht auf und räuspert sich, er zieht den Rucksack über, dann macht er sich auf den Rückweg zum Hotel. Er
will nicht denselben Weg gehen, den er mit Katharina gegangen ist, deshalb schlägt er sich weiter nach rechts und geht über eine Anhöhe zurück. Er erreicht den munter dahinsprudelnden Bach und geht an ihm entlang.
Er hatte jetzt eine Weile keinen direkten Kontakt mit ihr, das macht ihn ungeduldig. Er wünscht sich, am morgigen Tag länger mit ihr zusammen zu sein. Er überlegt, wo er sich mit ihr treffen könnte, und malt sich aus, was dann geschieht. »Ich bin noch zu einfältig«, sagt er laut, und der Satz kommt ihm gleich so vor, als gehörte er in seinen gerade geträumten Traum. »Was für ein Chaos!« sagt er und versucht, so zu lachen, wie er im Traum gelacht hat. Es gelingt ihm aber nicht, er findet nicht mehr hinein in das Traumgeschehen.
Früher ist ihm manchmal so etwas gelungen. Er hat einen Traum so behandelt, wie er auch mit Filmen umgegangen ist. Nachdem er ihn geträumt hatte, ist er eine Weile durch die Gegend gelaufen, als spielte sein einsames Gehen in den gerade geträumten Traumlandschaften. Er hat so gedacht und geredet wie in seinem Traum, und nach einer Weile hat er auf diese Weise wieder zurückgefunden in die Realität: Indem er den Traum allmählich der Realität angepasst, indem er den Traum auf sie abgestimmt hat. »Die Realität!« sagt er und versucht, wieder zu lachen. »Die Realität ist eine Bonus-Landschaft!« würde seine Mutter sagen, und sein Vater würde antworten: »Gershwin ist die einzige, sinnstiftende Realität des zwanzigsten Jahrhunderts.«
Seltsam, dass in den meisten seiner Träume die Klarinette vorkommt, dabei spielt er das Instrument zwar einigermaßen passabel, übt aber keineswegs viel. Auch dass er unbedingt einen Vortrag halten muss und viele Besucher schon darauf warten, dass er ihn hält, kommt immer wieder in seinen Träumen vor. Nicht zu vergessen das Schwimmen. Das Schwimmen kommt in fast all seinen Träumen vor, immerzu schwimmt er, und das meist allein und splitternackt. »Der Pool wartet jetzt am Abend auf Dich«, könnte seine Mutter sagen. »Rückenschwimmen ist die ästhetischste Schwimmart überhaupt und nicht zuletzt deshalb auch die einzig richtige«, würde sein Vater antworten.
Der schmale Pfad, der am Bach entlangführt, ist kaum noch zu erkennen, deshalb steigt er ein wenig den Hang hinauf, um ganz sicher zu gehen und nicht ins Wasser zu rutschen. Ganz in der Ferne leuchtet das Hotel auf, zur Linken aber liegt ein dunkles Wäldchen, das keinerlei Durchblicke erlaubt. Er steigt noch etwas hinauf in die Höhe und versucht, das Wäldchen rechts zu umrunden. Die Bergkette ist auf dieser Seite jetzt zu einem einzigartigen Bild zusammengeschmolzen: ein kühl auftrumpfendes, dunkles Grau, mit feinen Strömen von Schwarz. Er nähert sich dem Hotel und bleibt einen Moment stehen, als er den äußersten
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