Liebesnaehe
hat – gibt es diese Sammlung noch?
– Aber natürlich.
– Und wo ist sie jetzt?
– Ich habe sie in einem Lager am Stadtrand von München deponiert.
– Schaust Du Dir die Sachen manchmal noch an?
– Alle paar Wochen bin ich dort.
– Und warum?
– »Jules Archiv« bestand, als Georg es ausstellte, aus meinen Kindersachen. Ich habe es seit der Ausstellung damals enorm erweitert, und zwar um all die Gegenstände und Dokumente, die mir später wichtig waren. »Jules Archiv« ist also inzwischen kein kleines, übersichtliches, begrenztes Archiv mehr, sondern, wenn Du so willst, das Archiv meines Lebens. Ich hebe beinahe alles auf, ich registriere und katalogisiere es.
– Was hebst Du zum Beispiel auf?
– Beinahe alles, was mir während eines Tages begegnet und in die Finger gerät, alles, was ich länger als nur einen flüchtigen Moment anfasse, betrachte oder berühre. Speisekarten, Tageszeitungen, Fahrpläne, natürlich auch Seiten, die ich aus dem Netz ausdrucke, alles eigentlich, was irgendeine Rolle in meinem Leben spielt.
– Und wirst Du das alles einmal öffentlich präsentieren?
– Nicht alles, aber vielleicht doch einen Großteil.
– Und wann? Und wo?
– Ich weiß es noch nicht, ich denke noch nicht an so etwas. Ich sammle und sammle, und ich sage Dir, dieses Sammeln ist für mich sehr wichtig. Ich habe das Gefühl, dass keine Minute meines Lebens verschenkt ist und dass alle Minuten in einer geheimen Beziehung zueinander stehen. Sie umspielen meine Lebensthemen, und diese Lebensthemen werden durch die Sammlungen immer deutlicher und erkennbarer. Die Sammlungen führen also dazu, dass ich konzentrierter und aufmerksamer lebe, die Sammlungen sind die Konzentrate meines Lebens, verstehst Du?
– Ja, sehr gut.
– Aber warum fragst Du danach?
– Einerseits, weil ich mich neulich durch Zufall an die Ausstellung von »Jules Archiv« erinnerte und mich fragte, was aus diesem Archiv geworden ist. Und andererseits, weil ich darüber nachdachte, ob ich nicht auch so etwas wie ein Archiv führe. Ich meine natürlich kein Archiv von der Art, wie Du es anlegst, ich meine mein eigenes, kleines Privatarchiv: die Sammlung meiner Lieblingsbücher und die Notizen, die ich über meine eigenen Lektüren und über die Lektüren der Gäste mache. Das alles ist in meinen Augen »Katharinas Archiv«. Ich habe erst spät, nämlich erst in meinen letzten Münchener Jahren, mit der Anlage eines solchen Archivs begonnen. Aber seit ich hier, auf dieser einsamen Insel, wohne, habe ich es enorm vergrößert.
– Du machst ein Geheimnis aus diesem Archiv, niemand darf es betreten und in Deinen Aufzeichnungen lesen.
– Ich habe noch eine gewisse Scheu, die Sachen jemand
anderem zu zeigen, denn ich bin noch nicht überzeugt genug von dem, was ich schreibe. Manchmal finde ich alles auch vollkommen dilettantisch und ärgere mich über meine Unbeholfenheit. Ich schwanke also einfach noch zu sehr, ob ich die Texte aus der Hand geben kann.
– Aber mir, mir kannst Du sie doch zeigen.
– Nein, auch Dir kann ich sie vorerst noch nicht zeigen. Ich hätte dann Angst, etwas von mir preiszugeben, etwas, von dem ich nicht weiß, ob andere es wissen sollen.
– So intim sind Deine Aufzeichnungen?
– Nein, sie sind nicht »intim«, nicht in dem üblichen Sinn. Im Grunde sind sie sachlich, klar, es sind schlichte Beobachtungen. Und doch habe ich das Gefühl, dass auch in diesen einfachen Texten viel von meinem Seelenleben verborgen ist.
– Von Deinem »Seelenleben« …
– Ja, von meinem Seelenleben! Mach Dich nicht über mich lustig.
– Entschuldige, ich weiß natürlich, wovor Du zurückschreckst, mir geht es ja oft genauso, wenn ich etwas notiere oder wenn ich in einer Ausstellung meine Filme zeige.
– Na bitte.
Katharina dreht sich langsam vom Rücken auf den Bauch, legt die Arme eng an den Körper und schließt die Augen. Dann sagt sie:
– Es gibt einen Hotelgast, der mir auch von seinem Archiv erzählt hat. Das ist eine wirklich seltsame Sache, denn eigentlich braucht dieser Hotelgast einen Rat oder Hilfe.
– Möchtest Du mir davon erzählen?
– Ja, aber behalte es bitte für Dich.
– Ich schweige, Katharina.
Sie dreht sich ebenfalls auf den Bauch und schließt die Augen. Katharina spricht so leise, dass es beinahe schon ein Flüstern ist:
– Dieser Hotelgast hat vor einigen Jahren seine geliebte Mutter verloren, der Vater war bereits früher gestorben. Nach dem Tod der Mutter hat er sein
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