Liebesnaehe
viel über ihn, er hat sehr bescheiden und zurückgezogen gelebt. Beim Blick auf die beiden Karten aber wusste ich sofort mehr, und ich bereute es, dass ich mich während seines Lebens nicht häufiger mit ihm unterhalten hatte. Kannst Du erkennen, was auf den Postkarten drauf ist?
– Nein, nicht genau. Es sind Fotografien, nicht wahr?
– Ja, es sind Schwarz-Weiß-Fotografien. Die eine zeigt Nietzsches kleines Zimmer im Engadin-Ort Sils Maria, in dem Nietzsche eine Zeit lang während der Sommermonate lebte. Und die andere zeigt das Zimmer des Indianer-Häuptlings Red Cloud im Nordwesten der Vereinigten Staaten. Nietzsche und Red Cloud haben in diesen Zimmern genau zu derselben Zeit, nämlich in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts, gelebt. Die Wände und die Fußböden beider Zimmer sind aus Holz, und beide Zimmer sind sehr ähnlich eingerichtet: Eine Liege, ein paar Stühle, ein Tisch, mehr nicht – genauso wie das Zimmer unseres Gärtners. Ist das nicht verblüffend?
– Absolut. Und die fünfzig Bücher? Was sind das für Bücher?
– Es sind Gartenbücher, ausschließlich Gartenbücher. Bücher über Steingärten, Gräser, Chrysanthemen, Stauden, Obstbäume, Bücher über Pflege und Aufzucht all dieser Kostbarkeiten. Und es sind Bücher über Gärten anderer Kulturen, über asiatische, islamische, antike, mittelalterliche. Der Besitzer dieser kleinen, wunderbaren Bibliothek hat sich anscheinend nur für ein Thema wirklich
interessiert. Dieses Thema aber war so grundlegend und erschöpfend, dass er sein ganzes Leben damit bestreiten konnte: ein Leben aus dem Garten, ein Leben, das anscheinend in seinem gesamten Verlauf nur vom Garten her gedacht wurde!
– Faszinierend, absolut faszinierend. Wenn ich diesen Mann gekannt und von diesen Hintergründen gewusst hätte, hätte ich einen Film über ihn gedreht.
– Ja, ich habe etwas ganz Ähnliches gedacht. Ich hätte mich gern lange mit ihm unterhalten und all diese Unterhaltungen aufgezeichnet, ich hätte ihm all sein geheimes Wissen entlockt.
– Wie schade, dass es dafür zu spät ist.
– Ja, das ist schade, aber ich habe immerhin dieses kleine Archiv retten können. Man wollte die Bücher und Postkarten nämlich für einen Spottpreis verscherbeln, man wollte sie loswerden. Das habe ich gerade noch verhindert, ich habe die Bücher und die beiden Karten gekauft, und nun stehen sie in meinem Geheimkabinett, in der Nähe meiner Karteikästen mit den Aufzeichnungen über die Lektüren der Kunden.
– Warum stellst Du sie nicht wieder im Gartenhaus auf? Warum richtest Du dort nicht wieder ein Regal mit wenigen Büchern ein?
– Genau das, Jule, habe ich vor. Ich werde ein Regal einrichten, mit den Büchern des alten Gärtners und mit ebenso vielen Büchern, die ich selbst ausgewählt habe. Das sind dann zwei kleine Sammlungen ausschließlich mit solchen Büchern, die einen am Leben erhalten und das gesamte Leben formen und prägen.
– Fangen wir doch gleich damit an, oder, noch besser:
Lass mich doch gleich damit anfangen! Das Tagebuch des japanischen Wander-Dichters, das Kopfkissenbuch und das Buch des treuen Sohnes, der seinen Vater während der letzten Tage seines Lebens pflegt – diese drei Bücher nehme ich gleich mit ins Gartenhaus und stelle sie dort auf. Einverstanden?
– Einverstanden. Hast Du schon ein paar Deiner Sachen hinübergetragen?
– Ja, einen Koffer mit meinen asiatischen Kleidungsstücken und den anderen kleinen asiatischen Mitbringseln.
– Und heute Nacht wirst Du den Raum weiter einrichten?
– Ja, heute Nacht werde ich den Raum einrichten, dann kann ich ihn morgen bewohnen.
– Dann wird dieser Raum Teil Deines Projekts.
– Richtig, er wird der zentrale Raum meines Projekts, Du wirst sehen.
– Komm, lass uns etwas von dem wohltuenden, eiskalten Wasser trinken, komm!
Sie stehen auf und gehen durch die Säulenhalle hinüber zu einem kleinen Brunnen. Das kalte Wasser fließt dort ununterbrochen in ein kreisrundes Becken, sie trinken beide davon und gehen dann weiter in einen dunkleren Kuppelsaal, wo sie die blauen Leinentücher ausziehen und sich gegenseitig mit warmem Wasser übergießen. Dann holen sie sich ein paar Badelaken, breiten die Laken auf einem breiten, gewärmten Podest aus und legen sich mit dem Rücken darauf.
– Jule, ich wollte Dich noch etwas fragen.
– Leg los.
– »Jules Archiv« …, ich meine die Sammlung, die Georg aus Deinen Kinderbeständen angelegt und dann ausgestellt
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