Liebesnaehe
zielstrebiger. Er eilt hinüber ins Bad und schaut in den Spiegel. Sieht man ihm die Freude an, sieht man ihm an, dass er sich kaum beherrschen kann? Seit endlosen Zeiten hat ihn kein Mensch mehr zu einem Frühstück eingeladen, ja, er kann sich nicht daran erinnern, dass ihn überhaupt jemand zu irgendetwas eingeladen hätte. Und umgekehrt? Nein, umgekehrt auch nicht, der einzige Mensch, den er dann und wann eingeladen hat, war Katharina, sonst aber hat es niemanden gegeben, mit dem er gerne ein paar Stunden verbracht hätte.
Er beugt den Kopf in das Waschbecken und lässt einen starken, kalten Strahl auf seinen Hinterkopf schießen, er möchte hellwach sein, wenn er ihr begegnet, ja, er muss sich jetzt auf diese erste nähere Begegnung vorbereiten. Er reibt sich mit beiden Händen durchs Gesicht und schaut erneut in den Spiegel, er sollte sich rasieren, ja, sofort. Er trägt etwas Rasierschaum auf und beginnt, sich zu rasieren, auch im Badezimmer hat sich das helle Sonnenlicht inzwischen überall verteilt, es ist, als tanzte er in all seiner Nervosität und Ungeduld auf einem erhitzten Parkett.
Duschen? Natürlich, nach der Rasur eilt er in das abgetrennte Duschkabinett und beginnt mit einer fast heißen Dusche, deren Wärme er dann allmählich verringert, bis das Wasser auch hier eiskalt ist. Er pfeift etwas vor sich hin, die Klarinettensoli des gestrigen Tages steigen jetzt in seiner Erinnerung auf, wie seltsam, dass er sich wieder diesem Spiel zugewandt und es ihm so viel Vergnügen gemacht hat! Ob er ihr einmal etwas vorspielen sollte? Noch heute? Gleich jetzt? Er trocknet sich mit einem großen Badetuch gründlich ab und schüttelt den Kopf. Nein, er tut schon so, als wären sie ein Paar, das nun damit beginnt, sich seine Passionen vorzustellen. »Magst Du Keith Jarrett?« – »Aber ja, ich liebe ihn.« – »Und Miles Davis? Den musst Du dann ja auch mögen, Du musst !« – »Aber ja, natürlich, Du hast es genau getroffen …«
So ein Geschwätz hat er früher oft in seinem Freundeskreis hören müssen, und er hat es immer gehasst. Fast alles, was man so daherredet, wenn man sich kaum kennt, ist leicht verderbliche Ware. Ein hilfloses Plappern, das rasch viel zerstören kann. Aber es muss ja nicht sein, nein, absolut nicht, es muss nicht sein , denkt er entschieden und ist plötzlich beinahe stolz darauf, dass Jule und er es bisher geschafft haben, sich ohne direkte Worte zu verständigen. Ob sich das durchhalten lässt? Auch jetzt gleich, während des Frühstücks?
Er wird es versuchen, von sich aus wird er keine Anstrengungen unternehmen, mit ihr die ersten Worte zu wechseln. Und sie? Vielleicht wird es sie drängen, ihm von sich zu erzählen, oder vielleicht möchte sie ihm einige
Fragen stellen? Vielleicht spürt sie aber auch, dass sich das aufschieben lässt und dass der besondere Reiz ihrer Begegnung darin bestehen könnte, viel zu erraten und zu entziffern. Ihn jedenfalls reizt der stumme Austausch, denn er lässt den Empfindungen Raum und ihm auch genügend Zeit, vieles für sich zu durchdenken. Das Gesprochene dagegen hat oft ein zu hohes Tempo, und die Worte, rasch hingeworfen oder in den Wind gestreut, räumen alles weg, was sich ihnen in den Weg stellt. Vielleicht ist er ja ein Schriftsteller geworden, weil er die Gewalt über die Worte behalten oder sie so einsetzen will, dass sie ihre dominierende Macht verlieren und zu so etwas wie Musik werden.
Was soll er anziehen? Verdammt, er hat in diesen Modedingen nicht die geringste Erfahrung, es fällt ihm nichts dazu ein, im Grunde bräuchte er an jedem Morgen einen kleinen Karl Lagerfeld, der ihm die entsprechenden Ratschläge ins Ohr nuscheln würde: »Mann Gottes, das ist doch nicht so schwer! Ein weißes Hemd mit kleinem Stehkragen ist nie falsch. Überlegen Sie sich, wo sich die Schwachstellen Ihres Körpers befinden, und dann überlegen Sie, wie Sie diese Stellen geschickt kaschieren.«
Er lacht vor sich hin, das Lachen tut ihm gut, es entspannt ihn ein wenig, obwohl er in Sachen Kleidungsfragen kein Stück vorankommt. Er atmet tief durch, dann wählt er die Nummer der Rezeption und erkundigt sich, ob die junge Lea gerade Dienst tut, denn Lea versteht ihn und erzählt auch nicht gleich jedem Besten, was er sie gefragt hat. Sie ist im Dienst, und so wünscht er ihr einen
guten Morgen und erkundigt sich ganz beiläufig nach dem Wetter. Wie warm es heute denn werde? Und was man an einem solchen Tag anziehen solle?
Lea verkündet,
Weitere Kostenlose Bücher