Liebesnaehe
die meisten Geschichten auch etwas Erotisches. Erotisch? Ja, wirklich? Aber in welchem Sinn? Ihm fällt auf, dass die jeweiligen Lektüren oft in Berührungen übergehen. Georg schmiegt sich an Katharina, oder Georg legt sich auf eine Bank und bettet seinen Kopf in ihren Schoß. Oder Katharina umarmt Georg, oder sie legt sich neben ihn, so dass während der gesamten Vorlesezeit ein intensiver, nicht abreißender Körperkontakt besteht. Das Vorlesen, denkt er, hat die beiden auf eine Art Insel oder in eine Art gemeinsames Haus entführt, durch das Vorlesen sind sie sich jeweils nähergekommen, und diese Nähe ist wohl oft dann auch übergegangen in eine Erotik der Körper.
Er liest weiter, all diese Erzählungen und Geschichten sind in seinen Augen von großer Schönheit, denn sie erzählen in ihrer Folge nichts anderes als die Liebesgeschichte eines bereits älteren Paares, das sich seine Vorlieben und Passionen anhand von Lektüren erzählt und gesteht. Und so wird er, während er weiter und weiter liest, eingeführt in den Kosmos einer Begegnung, von der er bisher kaum etwas wusste. Katharina und Georg – das war eine Geschichte, die er nicht direkt miterlebt hat. Durch seine Lektüre wird er jetzt aber zu einem Mitwisser,
ja, er erlebt diese Geschichten jetzt mit, es sind die Vorgeschichten zu all dem, was seither passiert ist und gerade jetzt in diesem Hotel passiert.
Er achtet nicht auf die Zeit, er liest immer weiter. Ab und zu kommt ein Kunde in die Buchhandlung, und Katharina unterhält sich einige Minuten mit ihm. Er kann jedes Wort verstehen, die Unterhaltungen stören ihn bei der Lektüre, deshalb unterbricht er sie in solchen Fällen und wartet, bis der Kunde wieder verschwunden ist.
Dann aber hört er plötzlich, dass jemand in der Buchhandlung aufgetaucht ist, den Katharina anders behandelt als ihre anderen Kunden. Sie sagt nämlich nichts zur Begrüßung, nein, sie sagt sogar überhaupt nichts, und so hört er lediglich eine weibliche Stimme, die auf Katharina einredet:
– Katharina, es ist etwas unglaublich Schönes geschehen. Stell Dir vor: Seit heute früh lebe ich mit jemandem zusammen!
Er hört diese Stimme und hält still, er regt sich nicht, sondern bleibt in seinem Versteck. Er weiß genau, dass diese Stimme Jule gehört, und er weiß, dass sie Katharina jetzt von ihren Geheimnissen erzählen wird. Er hält sich die Ohren zu, er will das jetzt auf keinen Fall mitbekommen, aber er bemerkt sofort, dass die Stimme anscheinend erstirbt oder aussetzt, jedenfalls ist schon bald kein Geräusch mehr zu hören.
Er nimmt die Finger von seinen Ohren und hört wieder hin, da versteht er sofort, dass Katharina und Jule sich
nicht mehr in der Buchhandlung befinden. Sie werden sich draußen weiter unterhalten, ja, so wird es sein, wahrscheinlich hat Katharina Jule auf geschickte Weise dazu gebracht, die Buchhandlung zu verlassen und ihre Erzählungen draußen fortzusetzen.
Immerhin aber hat er nun ihre Stimme gehört, zum ersten Mal, ganz nahe. Es war eine helle, begeisterte, jubelnde Stimme, ja, es war die Stimme einer ausgelassenen, munteren Frau voller Glück.
– Ja, sagt er, Du hast recht, es ist wirklich etwas unglaublich Schönes geschehen: Seit heute früh leben wir zusammen.
Er unterbricht seine Lektüre, schließt die Augen und erinnert sich noch einmal an die morgendlichen Bilder. Er sieht den kleinen, überall mit Herbstblumen geschmückten Raum, er sieht den kreisrunden Frühstückstisch mit dem japanischen Geschirr, er hört die altjapanische Musik, und er riecht den gemischten Duft der Getränke und Speisen. Mit diesen Bildern hat sein neues Leben begonnen.
Er schaut auf die Uhr, der Vormittag ist bereits fortgeschritten, er möchte Jule am Mittag mit einer kleinen Mahlzeit überraschen, um die er sich noch kümmern muss. Damit sie sich nicht verfehlen, schickt er ihr eine weitere Nachricht: the writer is present 2: um 13 Uhr lädt er zum Mittagessen im Gartenhaus.
Noch eine halbe Stunde möchte er in Katharinas Aufzeichnungen lesen. Sie erwartet, dass er etwas dazu sagt
und ihr einige Ratschläge gibt. Kurz denkt er darüber nach, was er sagen könnte. Schon nach wenigen Minuten bemerkt er, dass er an ein Projekt denkt, ja, allmählich entsteht vor seinen Augen ein konkretes, klar zu beschreibendes, verführerisches Projekt. Er steht auf und zieht den Vorhang beiseite. Er holt sich einen weißen Zettel und einen Stift, dann geht er wieder zurück in das kleine
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