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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Anfeuerung – dann wäre man schon einen Schritt weiter.

    Mitten auf dem halbdunklen, fensterlosen Gang zur Buchhandlung bleibt er plötzlich stehen. Eine Sprache der Nähe …, genau das wäre es. Die Wendung durchzuckt ihn, und obwohl er noch nichts mit ihr verbindet, spürt er genau, dass er mit dieser Wendung etwas getroffen hat, wonach er lange suchte. Eine Sprache der Nähe – woran könnte eine solche Sprache sich orientieren? Hätte sie Vorläufer, Vorgaben, wovon könnte sie lernen? Er überlegt und horcht in sich hinein, und dann kommt wie von selbst der richtige Einfall, und dieser Einfall verweist auf Musik. Was er hört, ist von Mozart, ja, er hört jetzt Duette von Mozart, Duette aus seinen Opern, das sind die Vorbilder, natürlich. Es gibt keine intensivere Sprache der Nähe als die Musik Mozarts, bis zu einem vollständigen Vergehen hat Mozart seine Figuren getrieben, er hat sie sich auflösen und verflüssigen lassen, ja, so könnte man sagen, eine Aufhebung der Schwerkraft hat er betrieben,
ja genau. Zunächst nimmt er seinen Figuren das Alltägliche und Periphere und befragt sie auf ihre Empfindungen hin, dann lässt er sie diese Befragungen an dem geliebten Gegenüber selbst fortführen, und schließlich lauscht er darauf, wie diese gegenseitigen Befragungen vorstoßen zum Kern jeder Figur, der dann nur noch aus purer Liebe und Nächstenliebe besteht. Ein Dreischritt, der Dreischritt der allmählichen Offenbarung – die Annäherung, die Nähe, die Liebesnähe!

    Ihm schwindelt ein wenig, so dass er sich an einer Wand abstützt. Er blickt zu Boden, ihm ist plötzlich heiß, er öffnet die obersten Knöpfe seines Hemdes. Als er aufschaut, bemerkt er Katharina, die ihm entgegenkommt.
    – Johannes? Was ist? Ist Dir nicht gut?

    Er richtet sich wieder auf und versucht zu lächeln.
    – Es ist nichts, es geht mir gut, aber die Gedanken in meinem Kopf, die rasen gerade etwas zu selbständig auf und davon.
    – Komm mit in die Buchhandlung, da werden sie sich wieder beruhigen. Wo kommst Du her? Wo warst Du?
    – Ich habe mit Jule im alten Gartenhaus gefrühstückt. Sie muss es während der Nacht möbliert haben, es ist ein wahres Zauberreich geworden.

    Er folgt Katharina in die Buchhandlung, sie füllt eine große Tasse mit Tee und stellt sie ihm hin, dann zeigt sie ihm eine Fotografie, die neben ihrer Kasse liegt.
    – Schau mal, erkennst Du das Zimmer wieder?
    Er betrachtet die Fotografie, er erkennt den Raum, in
dem er eben noch gesessen hat, in diesem Raum befinden sich Möbel, die er ebenfalls kennt, und doch ist es jetzt ein vollkommen anderer Raum, viel frischer, lebendiger, von der düsteren, schweren Patina befreit, die ihm auf dieser Fotografie noch anhaftet.
    – Sah der Raum so aus, als der alte Gärtner ihn bewohnte? fragt er.
    – Ja, antwortet Katharina, das Foto zeigt den Raum kurz nach dem Tod des Gärtners.

    Er nickt, er versteht jetzt, wie Jule in der letzten Nacht vorgegangen ist. Sie hat die früheren Möbel in das Gartenhaus zurückgebracht und es gleichzeitig renoviert, sie hat aus dem dunklen Einsiedlerraum einen Liebesraum gemacht, in dem man frühstücken kann.
    – Warst Du schon drüben? fragt er Katharina. Hast Du schon gesehen, wie der Raum jetzt aussieht?
    – Nein, antwortet Katharina, es ist Euer Raum, ich betrete ihn nicht, und ich will ihn jetzt auch nicht sehen.
    Er nickt wieder, auch das versteht er, wenn er an die jetzige Einrichtung des Raums denkt. Es ist ein Raum für zwei, nicht für drei, eine dritte Person fände dort keinen Platz.

    – Komm mit, sagt Katharina, komm mit in meinen kleinen Archivraum! Nimm die Tasse Tee, der Tee ist stark und gut, er wird Dich eine Zeit lang hellwach halten.
    Sie wartet nicht länger, sondern nimmt ihn an der Hand, sie deutet auf die Tasse Tee und schaut zu, wie er sie in die andere Hand nimmt, dann schlägt sie den Vorhang zurück und weist ihm den Weg in die winzige Kammer,
in der sich auf einigen Regalen das Archiv ihrer Karteikarten befindet.
    – Da sind wir, sagt sie. Du bist der erste Fremde in diesem Raum, niemand sonst hat ihn je zuvor betreten. Letzte Nacht habe ich viele meiner Aufzeichnungen noch einmal durchgelesen, hier sind etwa fünfzig Karten, auf denen ausschließlich Notizen stehen, die ich selbst über meine eigenen Lektüren gemacht habe. Die Notizen über die Lektüren meiner Gäste möchte ich Dir dagegen noch nicht zeigen, ich weiß bisher generell nicht, ob ich das tun sollte, ich denke weiter

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