Liebesnaehe
Suche nach dem »richtigen Menschen im Leben« habe schließlich dazu geführt, dass auch Georg empfänglich für eine solche Suche geworden sei. Außer der kurzen Bemerkung, dass er ihr »noch einmal vormachen werde«, wie man so etwas anpackte, war nichts weiter geschehen. Dann aber war es eben doch – urplötzlich, völlig unerwartet und mit ganzer Gewalt – zu einer solchen Aktion gekommen. Georg hatte sich von Henrike und schließlich auch von seiner Familie getrennt, nur sie, Jule, war an seiner Seite geblieben und hatte aus der Nähe mitverfolgt, wie er ein neues Leben zusammen mit einer anderen Frau eingegangen war. Irgendetwas Entscheidendes musste ihm also wohl doch in den Ehejahren mit Henrike und im Kreis seiner Familie gefehlt haben, irgendetwas Fundamentales musste es gewesen sein, über das er nie die kleinste Bemerkung gemacht hatte.
Schade, dass sie das Paar Katharina-Georg niemals direkt erlebt hatte. Georg hatte ihr zwar von vielen gemeinsamen Reisen mit seiner neuen Partnerin erzählt, und nach seinem Tod hatte auch Katharina dieses gemeinsame Reiseleben oft erwähnt und kleine Details geschildert. Sie hätte sich aber gerne auch einmal einen persönlichen Eindruck von diesem Zusammenleben verschafft: wie ihr Vater, der bald sechzig werden würde, in enger Umarmung mit einer nicht wesentlich jüngeren Frau die Kunststädte Europas durchstreifte und sich von dieser Frau an allen möglichen Orten aus Unmengen von Büchern vorlesen ließ.
Das »Vorlesen«, ja, das hatte er immer wieder erwähnt, und auch Katharina hatte davon später, nach seinem Tod, manchmal gesprochen. Statt »wir haben uns in Paris die Seurat-Ausstellung angeschaut« hatte Georg viel eher »wir haben in Paris »Die Kartause von Parma« gelesen« gesagt, denn die meisten Reise-Orte hatten sich in seiner Vorstellung und Erinnerung anscheinend mit Lektüren verbunden. In diesen Lektüren vermutete sie denn auch das eigentliche Geheimnis der Verbindung zwischen Georg und Katharina, ja, durch diese gemeinsamen Lektüren musste etwas in Georg freigesetzt worden sein, das zuvor nur dunkel in ihm geschlummert hatte. Was aber war das?
Sie will jetzt nicht weiter darüber nachdenken, sondern sich ablenken, deshalb summt sie vor sich hin, sie hat das Gartenhaus verlassen und schaut jetzt von draußen hinein, sie macht noch einige Aufnahmen, und sie überlegt,
ob sie auch die Videokamera einsetzen und diese Sonnenszenen filmen sollte.
Mittags hat Georg nicht mehr so viel essen mögen wie in der Früh, und auch da hatte er seine festen Rituale. Er mochte nämlich weder Suppen noch Nachspeisen, und es war ihm am liebsten, wenn es nur eine minimale Kombination weniger einfacher Speisen auf einem Teller gab. Er nannte solche Mittagessen »Tellergerichte«, und er verstand darunter etwas Fleisch oder Fisch mit Gemüse. Mittags trank er dann Bier, und er war, sie erinnert sich gut, wahrhaftig ein leidenschaftlicher Biertrinker.
Wie oft hatte sie mit ihm einige Stunden in einem Biergarten verbracht und schließlich nur noch zuschauen können, wenn er ein Glas nach dem andern geleert hatte, ohne jedoch betrunken zu wirken. Das ruhige, gleichmäßige Biertrinken hielt ihn, wie er oft gesagt hatte, »einfach bei Laune«, und genauso war es dann auch gewesen, seine gute Laune hatte sich stundenlang gehalten, und er hatte immer neue Ideen produziert, in Windeseile und mit einer Lust an neuen Projekten, dass sich jeder Zuhörer mitgerissen fühlte.
Und abends? Abends hatte er meist kaum noch etwas gegessen, höchstens Obst, davon hatte er sich reichlich genommen, dazu hatte er Wein getrunken. Obst, Wein und vielleicht noch etwas Käse waren die Trias der Abendessen gewesen, Brot dagegen hatte er abends nicht mehr gegessen.
Wie es ihm wohl hier gefallen würde? In den großen
Restaurants würde er sich nicht wohlfühlen, nein, eher würde er den kleinen Landgasthof in der Nähe aufsuchen. Noch eher zu vermuten wäre aber, dass er sich die Mahlzeiten aufs Zimmer bringen lassen würde, und möglich wäre schließlich auch, dass er sich ein kleines Picknick zusammenstellen lassen und dann den ganzen Tag in den Bergwäldern verbringen würde.
Sie entschließt sich, doch noch einige Sequenzen mit der Videokamera zu filmen, sie geht wieder ins Gartenhaus und holt das Stativ und baut es dann außerhalb des Hauses vor einem Fenster auf. Das Sonnenlicht fällt jetzt schräg und scharf ein, wie auf einem Rembrandt-Bild, in dem leuchtenden Strahl
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