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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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einziges Kapitel vorgelesen wurden. Manchmal wurde eine Lektüre auch abgebrochen, dann wurde sofort mit einer anderen, interessanteren begonnen, auch in solchen Fällen hat Katharina aber vor allem vermerkt, was Georg an dem jeweiligen Buch nicht gefiel.

    Er hält die fünf ersten gelesenen Texte in den Händen und vergewissert sich, wann sie geschrieben worden sind, er stellt anhand der exakten Datierungen fest, dass die meisten Karten während Katharinas Zeit in diesem Hotel geschrieben wurden. Nach Georgs Tod und nach ihren langen Jahren in München hat sie sich hierher zurückgezogen und anscheinend sofort mit einer einzigartigen Erinnerungsarbeit begonnen. Auf unendlich vielen Karten hat sie sich an ihre Reisen und die Zeiten mit Georg
erinnert, und zwar so, dass sie diese Erinnerung immer an den gemeinsamen Lektüren festgemacht hat. Sie hat versucht, sich an diese Lektüren so präzise wie möglich zu erinnern, und über diese Erinnerungen hat sie dann auch einen Zugang zu anderen, nicht von der Lektüre geprägten Erinnerungen gefunden, ja, so könnte es gewesen sein.

    Er greift nach weiteren Karten und liest sie, indem er diese Fährte verfolgt. Ab und zu scheint es eine Ausnahme zu geben, dann notiert Katharina zu Beginn einer längeren Aufzeichnung, wann und wo sie selbst mit einer Lektüre begonnen hat. Donnerstag, 06. Juni, 12.30 Uhr. Nach dem Einkauf auf dem Viktualienmarkt hatte ich eine halbe Stunde Zeit. Ich ging rasch in eine Buchhandlung am Marienplatz und kaufte mir ohne langes Nachdenken einen Band mit Erzählungen von Tschechow. Irgendein Kunde hatte in der letzten Woche so von Tschechow geschwärmt, dass mir beinahe das Lese- Wasser im Mund zusammengelaufen wäre.

    Dann aber ging auch dieser Anfang allmählich über in die Geschichte einer Lektüre zu zweit, denn es hieß: Ich hätte gleich damit beginnen können, aber ich wollte unbedingt auf Georg warten, deshalb untersagte ich mir die Lektüre. Als Georg erschien, zeigte ich ihm das Buch und erzählte von meiner Lust, ihm daraus vorzulesen. Wir aßen dann aber zuerst etwas und tranken ein kühles Bier, und danach saßen wir zusammen in der Sonne, und ich las ihm Tschechow vor. Er lehnte sich eng an mich, und ich umschlang seinen schweren Körper mit meinem linken Arm, während ich das Buch in der rechten Hand hielt. Er wurde müder und müder, und plötzlich spürte ich, wie sein
großer Kopf auf meine Schulter sank. Er schlummerte etwas, und ich las weiter und weiter, mit immer leiser werdender Stimme. Schließlich habe ich Tschechow geflüstert, ja, am Ende war ich eine Tschechow-Flüsterin. Als ich die Geschichte zu Ende gelesen hatte, war es einen Moment still. Ich hörte ihn atmen, ich hielt ihn weiter ganz fest. Da sagte er, völlig unerwartet und mitten in die Stille hinein: »Großartig, ganz großartig. Den Tschechow muss man flüstern, dann packt einen jedes Detail …«

    Er liest zehn Texte, dann ist er ganz sicher. Katharina hat auf diesen Karten Erzählungen von ihren gemeinsamen Lektüren mit Georg festgehalten. Manche sind nur wenige Zeilen lang und bestehen nur aus ein paar Notizen wie etwa diese: Köln, am Rheinufer, in einer Pause der »Art Cologne«. Wir sitzen zusammen auf einer Bank, und ich lese Georg aus Coetzees autobiographischem Buch »Die jungen Jahre« vor. Er hört sehr aufmerksam zu, er will gar nicht mehr zurück in die Messehallen. Schließlich sagt er: »Warum schreibe ich nicht auch einmal so etwas? Ich sollte auch einmal von meinen »jungen Jahren« erzählen.« Danach streckt er sich auf der Parkbank aus, legt seinen Kopf in meinen Schoß und lässt sich weiter vorlesen. Ich lese beinahe eine Stunde, dann sage ich: »Sollten wir jetzt nicht zurückgehen? Drinnen in den Hallen warten sie längst auf Dich.« – »Wir gehen jetzt überhaupt nicht mehr zurück«, antwortet er, »wir gehen zurück in die Stadt und suchen uns ein gutes Plätzchen, wo es etwas zu essen gibt und Du mir weiter vorlesen kannst.«

    Andere Texte aber sind auch recht lang und ziehen sich über viele Karten hin, so dass sie sich zu richtigen Erzählungen auswachsen. Fast alle aber beginnen mit einer
Orts- und einer Zeitangabe und einem Einstieg in eine konkrete Szene, aus der dann allmählich eine kleine Geschichte wird, die sich oft auch von dem jeweiligen Buch fortbewegt und danach um Themen kreist, die das Buch angesprochen oder berührt hat.

    Und weiter? Was fällt ihm noch weiter auf?! Wenn er es sich genau überlegt, haben

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