Liebesnöter
auseinandersetzen, und letztlich wünschte sie sich jetzt nur professionelle Hilfe. Einen schwedischen Beamten an ihrer Seite oder einen einheimischen Detektiv. Sie griff nach dem Telefon. Manchmal tat ja auch ein einfaches Gespräch schon gut.
Ben war erfreut, ihre Stimme zu hören.
»Und? Wie läuft es bei dir? Hast du etwas erreicht?«, wollte er wissen. Und warum auch immer, Ella hörte eigentlich nur heraus: Falls nicht, kannst du ja auch gleich wieder zurückfliegen …
Sie erzählte ihm von ihrem Besuch in der Galerie, aber es fehlte ihr die richtige Leidenschaft, weil sie nicht das Gefühl hatte, dass er sie wirklich unterstützte.
»Interessiert dich das überhaupt?«, unterbrach sie sich selbst mitten im Satz und lauschte der leichten Aggressivität ihrer Stimme nach. Was war nur los mit ihr?
»Doch, doch«, beeilte sich Ben zu sagen, »schon. Aber muss das denn sein? Ich habe einfach kein gutes Gefühl dabei.«
»Du wolltest ja nicht mit!«
»Ich konnte nicht mit, das ist ein Unterschied.«
»Wenn du gewollt hättest, hättest du gekonnt.« Dann wäre auch das mit Roger nicht passiert, fügte sie innerlich hinzu. Es war kurz still.
»So siehst du das also.«
»Ja, so sehe ich das!«
Wieder war es still. Ella sah dem Jungen mit ihrem Cappuccino und der Zimtschnecke entgegen und wies auf den kleinen Tisch neben sich.
»Du weißt, dass das nicht wahr ist. Warum sagst du es trotzdem?«
»Weiß ich, dass es nicht wahr ist?«
Was ritt sie nur? Sie griff ihn an, ohne es wirklich zu wollen. Sie kannte sich selbst nicht.
»Lass«, sagte sie versöhnlich. »Es ist schon gut. Ich bin nur leicht überfordert und weiß im Moment nicht weiter. Es hat nichts mit dir zu tun, nur mit mir.«
»Aber auch das hört sich nicht gut an.«
Sie musste sich beherrschen, um nicht »dann lass es doch einfach« zu schreien, aber sie riss sich zusammen. »Ich habe eben einen Cappuccino serviert bekommen, vielleicht geht es mir danach besser. Und eine Zimtschnecke. Wahrscheinlich bin ich einfach nur unterzuckert.«
»Gut, dann ruf mich an, wenn es dir wieder besser geht.«
Sie legte das Smartphone weg und zog den Teller mit der Zimtschnecke zu sich heran. Er war hilflos, dachte sie. Völlig hilflos. Er wusste weder, wie er mit ihr, noch, wie er mit der Situation umgehen sollte.
Aber womöglich war sie ja wirklich nur unterzuckert.
Sie betrachtete die schwedische Spezialität von allen Seiten. Eine etwas dünn gerollte Schnecke, dachte sie, mit Hagelzucker bestreut. Dann biss sie hinein und spürte ein wohliges Gefühl aufsteigen. Genuss, dachte sie, ja, Genuss ist etwas Göttliches. Wie musste es sein, wenn man keinen Sinn für gutes Essen, gutes Trinken, einen guten Wein hatte? Wenn alles nur Nahrungsaufnahme war? Möglicherweise von einer Religion diktiert? Furchtbar, dachte sie, während sie ein weiteres Mal zubiss und den feinen Zimtgeschmack auf der Zunge zergehen ließ. Aber vielleicht war Genussfähigkeit ja auch eine Gefahr und das Zeichen für ein ungöttliches Leben im Rausch der Sinne? Schließlich konnten nicht nur Musik und Kunst, Essen und Trinken ein Genuss sein, sondern auch der Sex. War Genuss der erste Schritt zur Anarchie? Hieß es deshalb fleischliche Lüste, weil es sich auf alles bezog, was Lust machte und deshalb von der Kirche bekämpft werden musste? Waren die Lutheraner mit ihrer selbst auferlegten Enthaltsamkeit dabei schlimmer als die Katholiken? Ella trank einen Schluck Cappuccino und war froh, dass sie in einem Jahrhundert und in einem Land lebte, in dem man sich für seine Gelüste nicht rechtfertigen musste.
Jetzt öffnete sie kurz entschlossen das Päckchen. Ein PC -Stick fiel heraus. Was konnte das sein? Keine Notiz dazu, kein Nichts. Sie fuhr mit dem Finger in den Umschlag, nichts. Hatte es Sinn, an der Rezeption nach demjenigen zu fragen, der den Umschlag für sie hinterlegt hatte? Eher nicht. Zu viele Leute, zu viel Wechsel, auch bei den Rezeptionisten.
Sie musste ja nur an ihr Netbook gehen, dann wäre das Rätsel gelöst. Das hatte sie aber oben in ihrem Zimmer, und im Moment gefiel es ihr hier am Kamin recht gut.
Zeit, um sich eine Strategie zurechtzulegen.
In diesem Moment sah sie, dass die Rezeption frei wurde. Sie sprang auf und ging zu einer großen Blonden an die Empfangstheke.
Wie sollte sie ihr nun erklären, was sie wollte? Wie hieß das englische Wort für Einwohnermeldebehörde?
Keine Ahnung. Sie versuchte es auf Umwegen. Eine Künstlerin, eine Malerin, die
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