Liebesnöter
schwindelig, was und wie schnell man alles über einen wildfremden Menschen herausfinden konnte. Selbst die E-Mail-Adresse war angegeben. Nur der Beruf nicht. Sollte sie jetzt 79 Menschen anrufen und sie nach ihrem Beruf fragen?
Sind Sie zufälligerweise Künstlerin und malen Portraits?
Oder kurz: Kennen Sie Moritz?
Sie lehnte sich zurück.
Und jetzt?
Dieser geheimnisvolle Umschlag fiel ihr ein. Der Stick.
Sie schob ihn ein und bekam Herzklopfen. Was würde sie erwarten? Eine geheimnisvolle Botschaft von Anna? Eine Drohung: Spionieren Sie mir nicht weiter nach, es könnte Ihr Leben kosten …
Mit Musik hatte sie nicht gerechnet. Ein deutscher Text und ein Interpret, von dem sie wusste, dass sie ihn kannte. Irgendetwas aber traf sie, sie blieb sitzen und lauschte, und dann spielte sie das Stück noch einmal von vorn:
Sie hat das Gesicht, das oft nur zeigt,
wie viele Gesichter es verschweigt,
sie hat die Farben, die der Mai kaum fertigbringt,
sie kann beschützen wie der Wind,
sie kann verletzen wie ein Kind.
Diese Stimme. Es fuhr ihr durch und durch. Charles Aznavour. Das hier war von Roger.
Roger.
Den ganzen Tag hatte sie sich verboten, an ihn zu denken. Das war außerhalb jeder Möglichkeit, war einmalig, war schleunigst zu vergessen. Aber das hier brachte alles zurück. Es war ein Gefühl, wie sie es lange nicht gespürt hatte. Es rumorte in ihrem Magen, und sie musste aufstehen. Eine Weile lief sie in ihrem Zimmer auf und ab.
Was sollte sie tun?
Schließlich griff sie kurz entschlossen nach dem Telefon und wählte die Zimmernummer unter ihr.
Der Ruf ging durch, es meldete sich niemand.
Was hast du erwartet, dachte sie. Dumme Kuh. Und außerdem hast du Ben.
Ben. Das war Vertrauen, Geborgenheit, Liebe.
Sie nahm ihre Wanderung wieder auf.
Jetzt hör auf, durch das Zimmer zu tigern, sagte sie sich und spielte das Lied noch einmal. Es war furchtbar, es traf irgendeinen Nerv.
Rührselig, dachte sie. Ich werde auf meine alten Tage rührselig.
Sie ist das Kapitel, das mich schreibt,
die Woge, die mich weiterträgt,
die meine Höhen, meine Tiefen bestimmt …
Meint er damit wirklich mich?, fragte sie sich, oder ist es eine Masche, die er bei jeder einsetzt? Und trotzdem fand sie es schön. Es war die Liebeserklärung eines fremden Menschen. Eine Liebeserklärung, die der eigene Freund auf eine so schöne Art wahrscheinlich noch nicht einmal gedacht hatte.
Sie ist, was ich habe, was ich bin,
ist mein Verlust und mein Gewinn,
ist das Gesicht, an dem man nicht vorübertreibt …
Ich bin ausgehungert, dachte sie plötzlich. Ausgehungert nach Liebe. Ist nicht zu fassen, ich habe eine langjährige Beziehung und sehne mich nach Liebe.
Oder ist es nur die Sehnsucht nach schönen Worten?
Sie ist das Gedicht,
das man nie schreibt,
das mir zu schreiben übrig bleibt …
Okay, das war Roger. So konnte sie ihn sich vorstellen, an einer der belebten Straßen in Paris, in einem kleinen Café, einen Espresso auf dem runden Bistrotisch vor sich, daneben eine Zeitung, den Blick auf die hübschen Französinnen, die vorüberströmen, eine Liebe zu Frauen, die er auf alle und auf eine überträgt – diesmal ist es sie.
Vielleicht hatte er ja, weil er dem jungen Charles ähnlich sah, vieles von ihm übernommen? Wer wusste schon, wie die Menschen ticken?
Sie wusste es ja selbst nicht. Sie hatte heute Morgen festgestellt, dass sie sich nicht einmal selbst kannte. Sie machte Dinge, die sie vor wenigen Tagen noch weit von sich gewiesen hätte.
Ella, Ella, sagte sie sich, das bringt dich keinen Zentimeter weiter.
In diesem Moment klingelte das Telefon.
Sie schaute hin. Es war das Zimmertelefon. Wer konnte sie auf diesem Telefon anrufen?
Roger. Und sie sah sich selbst, wie sie sofort aufsprang und zum Telefon lief.
»Sandström, Rezeption.«
Ihr Herz pochte.
»Ja, Frau Sandström?«
»Ich habe mit meinem Freund telefoniert. Der kennt sich in der Kunstszene recht gut aus, aber Inger Larsson ist ihm kein Begriff.«
»O ja, vielen Dank, dass Sie sich so nett bemüht haben.«
»Aber Sie könnten heute Abend mitkommen und selbst nachfragen, wir gehen in eine angesagte Künstlerkneipe.«
»Und da würden Sie mich mitnehmen?«
»Warum nicht?«
»Das ist ja gigantisch!« Ella konnte es kaum fassen. »Wann denn?«
»Ich habe um zehn Dienstschluss, das passt für die Kneipe ganz gut!«
Ella schaute schnell auf die Uhr. Da hatte sie noch über drei Stunden Zeit. Sie bedankte sich und blieb vor dem
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