Liebesnöter
doch wissen.
»Eine alte Freundin von Nils«, sagte sie wahrheitsgemäß, »ich wollte ihn besuchen.«
Der Mann betrachtete sie, dann zog er die Stirn kraus.
»Ich habe dich schon mal gesehen.«
»Mich?« Ella schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein!«
Er kam näher, und Ella wich automatisch aus, aber er ging nur an ihr vorbei zu der Kommode, die rechts am Fenster stand. Jetzt könnte ich abhauen, war Ellas erster Gedanke, aber im selben Moment packte sie die Neugierde, und sie ging ihm nach. Er hatte die oberste Schublade aufgezogen und wühlte darin, dann zog er grinsend einen Silberrahmen heraus. Ella hielt die Luft an, als er ihn zeigte. Es war ein Foto, wenige Tage vor der Abiturfeier aufgenommen. Sie erinnerte sich gut daran, denn sie hatte es gemacht: Moritz. Im rechten Arm hielt er Inka, im linken Arm Steffi.
»Das bist doch du?« Der Typ deutete auf Inka.
Ella nickte.
»Dann seid ihr alte Freunde.«
»So alt nun auch wieder nicht.« Ella hätte fast gelacht. Ein hysterischer Anfall, dachte sie, beherrsch dich. Jetzt war es sicher. Moritz war nicht verschwunden. Er hatte als Nils Andersson hier gelebt. Hier in diesen Räumen, den See durch diese Fenster gesehen, in diesem Bett geschlafen, diese Luft geatmet. Es war unfassbar!
»Gibt es da noch mehr?«
Er zuckte die Achseln. »Wir haben alles, was so herumstand, in diese Schubladen geworfen. Ist ja alles privates Zeugs. Geht keinen was an.«
Ella warf ihm einen kurzen Blick zu. So viel Anstand hätte sie ihm gar nicht zugetraut. Sie kickte eine leere Konservendose zur Seite und trat neben ihn vor die Kommode.
Einige gerahmte Fotos lagen übereinander. Sie griff wahllos hinein. Das war er. Moritz, wie er heute aussah. Wieder überkam sie ein Schauer. Das Gesicht war männlicher geworden, ausgeprägter, kantiger. Um die Augen herum sah man ihm an, dass er sich viel draußen aufhielt, kleine helle Fältchen auf der sonnengebräunten Haut.
Wie konnte sie nur so sachlich nachdenken, er hatte Inka getötet und sich hier ein gemütliches Leben gemacht, hatte sich der Verantwortung entzogen, hatte alle im Schmerz und in der Ungewissheit zurückgelassen. Es war schade, dass er nun wohl selbst ertrunken war, sie hätte ihn gern mit ihren Gefühlen konfrontiert.
»Willst du noch mehr?«, fragte der Mann und brachte sie ins Heute zurück.
Ella schaute auf. »Ja, das ist wichtig für mich.«
Er nickte. »Dann lass ich dich allein.«
»Danke.«
»Magst du einen Tee?«
Ella dachte an das schmutzige Geschirr in der Küche und schüttelte den Kopf. »Danke, sehr lieb, aber nein.«
Sie schaute ihm kurz nach, dann beugte sie sich über die Schublade. Nun kam auch Inger zum Vorschein. Lachend am Ufer, ein gemeinsames Foto Kopf an Kopf, offensichtlich auch mit langem Arm selbst fotografiert, und ein sehr bemerkenswertes Motiv: Moritz bei Inger im Atelier. Mit Pinsel und einer Malpalette in der Hand vor einem Gemälde, das Ella kannte. Es war ihr schon in der Ausstellung aufgefallen, weil es sie seltsam berührt hatte: das düstere Motiv eines Sees, der Ella bei näherem Betrachten fatal an ihren eigenen See in Deutschland erinnerte. Ja, es war das Ufer des heimischen Sees, dort hatten sie ihr Abitur gefeiert, und das Ruderboot, schemenhaft im Hintergrund, war das Boot, mit dem Inka und Moritz gekentert waren. Sie musste Luft holen. Das Bild hatte Moritz gemalt. Sie hatte gespürt, dass da etwas war, aber sie hatte eine schwedische Malerin und einen schwedischen See vor Augen. Aber nein, es war Moritz. Und der Tatort.
Ella wurde es schlecht, und sie ließ sich auf das ungemachte Bett sinken. Du lieber Himmel, dachte sie, hier hat er geschlafen, hier hatte er Sex, und ich stand in Frankfurt vor seinem Bild. Es überstieg fast ihre Vorstellungskraft. Sie betrachtete das Foto noch einmal. Kein Zweifel. Das Gemälde war noch nicht fertig, er war mitten in der Arbeit. Ein Gemälde von Moritz, fotografiert von der Malerin, wie schräg.
Hatte er noch mehr Bilder wie dieses gemalt? Stammten diese düsteren Gemälde alle von ihm? Diese Freudlosigkeit, diese Schwere? Hatte er sich vielleicht umgebracht, weil ihn die Schuld erdrückte?
Ella fand keine Antwort.
Sie musste Steffi fragen. Sie musste sie nachher gleich anrufen – egal, was so ein Anruf kosten würde, jetzt brauchte sie eine Freundin zum Reden. Alleine konnte sie das nicht verkraften.
Zumindest konnte sie ja schon mal eine SMS schreiben. Ella zog das Smartphone heraus, es blinkte. Gleich würde der
Weitere Kostenlose Bücher