Liebesnöter
Familie auch in Stockholm?«
»Das weiß ich nicht, ich weiß nur, dass die Schwestern an eine Entführung glauben und nach ihm suchen.«
»Also kein Unfall?«
»Die eine, die jüngere, wohnt mit ihren Freunden in Nils’ Haus, und sie suchen nach Spuren. Oder nach seiner Leiche …«
»Und woher …«
»Weil ich doch gestern dort war. Und kurz darauf hat mir ein Kripobeamter erzählt, seine Kreditkarte sei benutzt worden. Sie hätten dir das auch mitgeteilt.«
»Ja, sie haben mir die Unterschrift vorgelegt, aber ich bin mir nicht sicher. Es könnte auch eine Fälschung sein.« Sie stockte. »Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass er ohne ein einziges Wort verschwinden würde. Freiwillig verschwinden. Ich muss doch einmal zu seinem Haus fahren!«
»Ja, keine schlechte Idee«, Ella zögerte. »Sein Haus war die ganze Zeit offen, da konnte jeder an seine Sachen ran.«
Ella legte auf und schaute nachdenklich aus dem Fenster.
»War das jetzt richtig, ihr alles zu sagen?«
Roger blickte über den Bildschirm seines Laptops zu ihr. »Damit wird ihre große Liebe immer mehr zum Lügner. Ich weiß nicht, ob du ihr damit was Gutes tust.«
»Aber es ist die Wahrheit. Und vielleicht entdeckt sie ja etwas, was bisher übersehen wurde.«
»Wahrscheinlich räumt sie die Bude erst mal auf …«
Ella ging ans Fenster. Draußen schien die Sonne, aber sie wusste, wie schnell sich das hier ändern konnte. »Was du vorhin gesagt hast«, begann sie, »du müsstest bald abreisen, ist das wahr?«
Sie blieb mit dem Rücken zu ihm stehen und stützte sich auf dem breiten Fenstersims ab.
Roger schwieg, und Ella drehte sich langsam zu ihm um.
»Wir kennen uns jetzt erst fünf Tage«, sagte Roger. An seiner Haltung war abzulesen, dass er sie angesehen hatte. »Das ist schon seltsam.«
»Was ist seltsam?« Ella blieb am Fenster stehen.
»Dass man in fünf Tagen so eine Nähe entwickeln kann.«
»Ja, ich mag eigentlich nicht, dass du weggehst.«
»Und ich mag dich nicht hier allein zurücklassen.«
Sie sahen einander an, dann stand Roger auf, das Badetuch noch immer um die Hüften geschlungen, ganz so, wie sie ihn kennengelernt hatte, und kam langsam auf sie zu.
»Was wird das jetzt?«, fragte Ella. »Noch ein Heiratsantrag?«
Er musste lachen. »Dass du mir aber auch immer das Wort aus dem Mund nehmen musst!«
Sie blieben voreinander stehen und schauten sich eine Weile wortlos an, dann öffnete Ella ihren Bademantel, und Roger ließ sein Handtuch fallen, und sie liebten sich genau dort, wo sie waren, Ella mit dem Rücken zum Fenster und mit einem Gefühl von Trauer, das sie halb wahnsinnig machte.
Zum Mittagessen entführte Roger Ella in die Stadt. »Komm«, hatte er sie aufgefordert, nachdem sie das Frühstück verpasst hatten, »vergiss jetzt mal diesen Burschen. Ich möchte meinen Schal haben, den du mir gestern zwar versprochen, dann aber doch nicht mitgebracht hast, und du solltest dir endlich eine dicke Jacke kaufen, sonst bleibst du noch mit einer Lungenentzündung auf der Strecke.«
Ella genoss diesen Ausflug, dieses Gefühl, an nichts anderes denken zu müssen als an das Jetzt und Hier. Sie gingen die belebte Einkaufsstraße hinunter, aber Ella stellte fest, dass es fast nur die großen Geschäfte mit den internationalen Marken waren, die es auch in Deutschland gab. »Das ist doch überall gleich«, erklärte sie. »Entführe mich in die Altstadt, wenn ich schon etwas kaufe, dann bitte ein Kleidungsstück Made in Sweden.«
Roger führte sie zielsicher zu einem kleinen Geschäft, das vor feinen schwedischen Wollpullovern fast überquoll. Ella konnte sich an den vielen Mustern in den verschiedensten Farben kaum sattsehen. Roger fand einen traumschönen Schal, aber Ella konnte sich einfach nicht entscheiden.
»Das habe ich befürchtet«, sagte Roger, »und eigentlich wolltest du ja auch keinen Pullover, sondern eine dicke Jacke.«
»Vielleicht einen schönen Pullover unter der Jacke?« Sie hielt ihm mehrere Modelle zur Auswahl hin. Feine weiße Muster auf Dunkelblau, auf Grau, auf Dunkelgrün, Jäckchen, so liebevoll gearbeitet, dass Ella ins Schwärmen geriet. »Jedenfalls nehme ich so einen Pullunder für meine Mutter mit.« Sie verstummte. Noch gestern hätte sie gesagt: und für Steffi, meine beste Freundin. Verdammt, warum musste ihr das gerade jetzt wieder einfallen?
»Sie erinnern mich an deine Servierplatte«, sagte Roger.
Stimmt. Anscheinend hatte sie gerade eine Schwäche für verspielte
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