Liebesvisitation (German Edition)
werden – ihr Wort kein Gewicht mehr hat.“
„Albert hat dich angsteckt mit seinen Verbalerhabenheiten .“
Judith ließ sich nicht beirren. „Man muss über seinen eigenen Schatten springen.“
„Ich bin ein Mann von wahrer Größe. Mein Schatten ist zu groß, um darüber zu springen“, sinnierte Ralf.
„Du musst nach dem Licht streben“, sinnierte Judith. „Licht bedeutet Wärme, und was warm ist steigt auf.“
„Und je näher ich dem Licht komme, desto größer wird mein Schatten...“
„Ralf will ‘ne Landkarte, die den Weg zu Annas Herzen aufzeigt“, stärkte Christian ihm den Rücken.
„Ja, aber Anna ändert laufend die Verkehrsführung“, gab Ralf zurück.
„Das glaub ich nicht“, widersprach Judith. „Du bist einfach zu inkonsequent.“
„Wieso? Ich hab mich doch bemüht.“
„Du gibst aber zu schnell auf. Sobald ‘ne Ampel rot wird, siehst du rot und kehrst um. ‚Wer A sagt, muss auch B sagen‘ heißt es, aber die Wahrheit ist: Wer A sagt, muss auch B sagen und C und D und E und das ganze Alphabet durch. Alles andere ist im wörtlichen Sinne ‚unschlüssig‘.“
„Das hilft mir nichts. Ich brauch ‘ne konkrete Anleitung.“
„Sowas gibt es nicht. Du darfst Vorbilder haben, aber solltest nicht Wege gehen, die schon mal gegangen wurden, sonst hörst du auf du selbst zu sein. Du darfst Ratschläge höchstens adaptieren, auf deine Ebene transformieren. Sonst bräuchtest du überhaupt keine eigene Intelligenz mehr. Weisheit ist die Fähigkeit, Wissen richtig zu nutzen. Sonst ist es wie ein Philosophiestudium, wo die Fragen großer Leute vergangener Zeit plötzlich zu Antworten gemacht werden, und du alte Fragen lernst, als wären es neue Antworten. Außerdem: Was ist schon 100 Prozent sicher? Es passieren laufend unvorhersehbare Dinge. Und sie verdeutlichen, dass der Mensch nichts zu 100 Prozent weiß, und was man nicht zu 100 Prozent weiß, das weiß man schlussendlich gar nicht, den 99 Prozent sind schon nur ’ne Mutmaßung. Du würdest ja auch nicht russisch Roulette spielen, wenn 100 Kugeln in den Lauf passen und in einer Kammer ’ne Kugel ist.“
„Aber es muss doch sowas wie einen moralischen Kodex geben“, mutmaßte Ralf.
„Quatsch“, widersprach Judith. „Moral ist was für Menschen, die nicht wissen was richtig ist mit ihrem Herzen. Die einen Leitfäden brauchen. Leitplanken, die sie in der Spur halten. Rationale Überlegungen über Recht und Unrecht. Darum geht es aber nicht. Es geht nicht darum zu wissen, was richtig und falsch ist. Es geht darum, es zu spüren. Und das kann sich dann in altbekannten Symbolen ausdrücken. Natürlich freut sich eine Frau, wenn sie ab und an Blumen geschenkt bekommt, aber viel wichtiger als die Blumen, ist der Gedanke, der sich dahinter verbirgt.“
„Der Gedanke ist schon da“, erklärte Ralf. „Dann brauch ich noch die Blumen.“
„Na dann los“, forderte Judith ihn auf. „Aber pass auf, dass du dir auf dem Weg zu Annas Herzen nicht wieder im Weg stehst.“
Markus erhob den Zeigefinger. „Ich geb ‘ euch ein Rätsel auf“, sagte er.
„Jetzt kommt wieder so ‘ne scheiß Geschichte, welche die Latte so richtig tief legt“, murmelte Thomas bekümmert.
„Du hast es gern, wenn die Latte hoch liegt, nicht wahr? Trotzdem: Das Rätsel hab ich selbst erfunden.
Stellt euch vor, ihr begegnet euch selbst, und euer Gegenüber macht genau das Gegenteil von dem, was ihr tut. Das heißt: Wenn du nach rechts gehst, geht er nach links, wenn du nach links gehst, geht er nach rechts. Wie kommt ihr aneinander vorbei?“
Die Menge grübelte. Dann rief Christian: „Ich weiß es. Sie pressen ihre Körper aneinander und drehen sich im Uhrzeigersinn.“
„ Nahein “, sagte Markus genüsslich. „Denn dein Gegenüber dreht sich ja gegen den Uhrzeigersinn.“
„Scheiße.“
Sie sinnierten weiter.
„Jetzt weiß ich!!“, rief Albert aus. „Sie schlagen einen Purzelbaum. Ich mache eine Rolle vorwärts, und mein Gegenüber macht eine Rolle rückwärts.“
„Genau!“, bestätigte Markus.
„Mach ‘ne Rolle vorwärts, Ralf“, sagte Judith.
Christians Telefon klingelte. Er war recht kurzangebunden. „Ja...ja...ja ja . Klar. Ich dich auch.“
„Du mich auch“, flüsterte Markus zu Thomas.
„Nicht hier“, entgegnete dieser.
„Ein Liebesgespräch, deine Freundin?“, fragte Markus, nachdem Christian aufgelegt hatte.
„Sie würde gern in zwei Wochen zu unserem Sommerfest am Badesee kommen, wenn’s recht
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