Liebeswut (Junge Liebe) (German Edition)
Dirks Krankenakte, die auf dem Tisch lag.
Nachdenklich blätterte er darin herum.
„Dirk hat sicher versucht, ohne Tabletten auszukommen. Er hat sie
nicht genommen, dabei aber auch nicht bemerkt, dass es ihm
wieder schlechter ging.“
Neal stimmte zu.
„Er wurde auch immer eigenartiger.“ Er dachte nach. „Das wird
mir jetzt erst richtig bewusst.“
„Was sind dir denn für eigenartige Dinge an Dirk aufgefallen?“
„Puh.“ Neal lehnte sich zurück. Als er die letzten Monate Revue
passieren ließ, kamen ihm tatsächlich viele Ereignisse in den
Kopf, die äußerst merkwürdig waren.
Er berichtete dem Arzt von dem Erlebnis in der Sauna, von dem
Hund, von dem Biss am Hals und von Dirks aufbrausendem
Verhalten.
Dass Dirk ihn am Anfang ihrer Freundschaft quasi auch
vergewaltigt hatte, schwächte er jedoch ab.
Der Arzt wirkte erstaunt. „Er hat dich missbraucht? Und du hast
nicht die Polizei informiert?“
Neal senkte den Kopf, als würde er sich dafür schämen.
„Ehrlich gesagt war es gar nicht so schlimm“, gestand er. Dann
hob er seinen Kopf wieder an. „Kurz danach wurden wir ja ein
Paar. Ich denke, das hat auch nichts mit seiner Krankheit zu tun.“
„Na ja.“ Dr. Stephan klang nachdenklich. „Wenn er dich
gewaltsam dazu gedrängt hat? Gerade dieser Ausdruck von
Gewalt ist in Dirks Krankengeschichte von großer Bedeutung.“
„Ach Gewalt!“ Neal setzte sich auf. Er wurde plötzlich wütend.
„Wissen Sie überhaupt, wovon Sie reden? Dirk war so lieb zu mir.
Er hat so viel für mich getan. Durch ihn fand ich Freunde,
Anerkennung, meine Noten wurden besser, ich konnte in der
Schulband mitspielen. Man hat mich zum Klassensprecher
gewählt.“ Er beugte sich vor und sah den Arzt eindringlich an. „Er
hat mich vor Skinheads beschützt und Dennis, diesem Blödmann!“
Neal war außer sich. Er konnte es nicht ertragen, dass man
schlechtes von seinem Freund sprach. Doch Dr. Stephan lenkte
sofort ein:
„Warum hat er dich denn so misshandelt, wenn er angeblich so
lieb war?“
Neal stockte der Atem. „Ich weiß nicht.“ Seine Schultern senkten
sich. „Da war etwas Böses in ihm. Ich bin sicher, dass er gar nichts
dafür kann!“
Der Arzt nickte.
„Dieses Böse in ihm ist seine Krankheit. Und du kannst ihm
helfen, wenn du mir noch mehr von diesem Bösen berichtest.“
„Okay.“ Neal klang gefasst. Er sah ein, dass er alles erzählen
musste. Von dem Streit mit Sparky, von der Lungenentzündung,
von der Peitsche, den Schlaftabletten und auch von Leon.
Während er all dieses erzählte, wurde ihm erst recht bewusst, wie
viel schlimme Dinge ihm Dirk angetan und wie wenig er sich
dagegen gewehrt hatte.
Der Arzt hatte alles mitgeschrieben. Er dankte Neal für dessen
Mithilfe.
„Werden Sie ihn wieder heilen?“, fragte Neal nach dem Gespräch.
Der Arzt lächelte. „Wir werden versuchen, seine Krankheit wieder
in den Griff zu bekommen. Für immer heilen kann man eine
Psychose leider nicht.“
Neal nickte. Und doch hatte er die Hoffnung, dass Dirk wieder der
„Alte“ werden würde. Obwohl er tief in sich doch gar nicht
wusste, wie Dirk wirklich war. Wenn Dirk gleich Dirk ist ...
„Neal fehlt schon wieder“, stellte Laura am nächsten Tag fest. „Ob
ihm was passiert ist?“
Cecile runzelte die Stirn. „Dirk soll auch krank sein, munkelt man.
Komisch, oder?“
Da fing Laura an zu lächeln. Sie deutete nach draußen, wo die
Sonne schien.
„Vielleicht machen sie sich einen schönen Tag?“
Cecile zweifelte. „Das mit Dirk soll etwas ernstes sein. Die ganze
Schule spricht über nichts anderes.“
Sofort wurde Lauras Blick betrübt. „Hoffentlich ist er zu den AbiPrüfungen wieder fit!“
„Bestimmt!“ Cecile grinste. „Der lässt doch das Abi nicht sausen.
Bei seinem Talent!“
Neal lächelte, als er Dirk im Bett sah und der viel klarer und
aufmerksamer wirkte, als am Tag davor. Zur Begrüßung küsste er
ihn zärtlich auf die Stirn.
„Dass du mich überhaupt noch besuchen kommst.“ Dirks Stimme
klang leise; erneut war er den Tränen nahe. Neal setzte sich zu ihm
ans Bett.
„Ich habe extra die Schule für dich geschwänzt“, berichtete Neal.
Er verkniff sich ein Grinsen. „Wieso sollte ich dich nicht mehr
besuchen?“
Dirk seufzte. Er wirkte unheimlich blass und mitgenommen.
„Nach allem, was passiert ist. Ich schäme mich so.“
„Du konntest nichts dafür.“
„Ich konnte was dafür!“ Dirk betonte jedes einzelne Wort.
Verbittert fuhr er fort:
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