Liebling der Götter
glaube, ich schulde dir eine Erklärung.«
»Das glaube ich auch.«
»Also«, fuhr Mary fort, wobei sie die Krallen verlagerte, mit denen sie sich an den Felsen klammerte, und zuckte zusammen. »Sag mal, wäre es für dich einfacher, wenn ich für eine Weile menschliche Gestalt annähme?«
»Das liegt voll und ganz bei dir«, antwortete Ms. Fisichelli. »Es liegt mir fern, dir Vorschriften …«
»Danke«, fiel ihr Mary ins Wort, warf die Federn ab und zog ein blaßblaues Strandkleid mit kleinen rosaroten Blumen an. »Meine Krallen haben mich fast umgebracht«, erklärte sie.
»Also dann«, sagte Ms. Fisichelli. »Du wolltest gerade etwas sagen.«
»Ja«, bestätigte Mary. »Also, wahrscheinlich hast du schon vermutet oder gehört, daß ich Prometheus’ Adler bin. Du weißt schon, der, der den Auftrag erhalten hatte, dem armen Kerl als Teil seiner Strafe jeden Morgen und Abend die Leber rauszuhacken …«
»Ich habe Studienabschlüsse an sechs Universitäten gemacht«, unterbrach Ms. Fisichelli sie. »In den Grundlagen der Mythologie kenne ich mich durchaus aus, danke.«
»Entschuldigung.« Mary unterdrückte den Trieb, in die Luft zu springen, die Flügel auszubreiten und zu schreien; statt dessen pickte sie verlegen am Daumennagel. »Na ja, Promi und ich … Wenn man jemanden so lange kennt, muß man ihn mit der Zeit einfach irgendwie verstehen, und außerdem war es falsch, was ihm die Götter angetan haben. Er hat nur den Sterblichen zu helfen versucht, und diese Mistpickel haben ihn einfach außer Gefecht gesetzt. Die Götter mögen uns nicht, Betty-Lou, die …«
»Meinst du mit ›uns‹ Menschen oder Adler?« wollte Ms. Fisichelli wissen.
»Beides«, antwortete Mary. »Die Götter mögen nur sich selbst. Du kennst doch den ersten Witz, oder? Und du weißt auch, daß sie die Komik abschaffen und die Weltherrschaft wieder übernehmen wollen, nicht?« Ms. Fisichelli nickte. »Und findest du demnach nicht, daß sie von jemandem aufgehalten werden müssen? Kannst du dir nur mal einen Augenblick lang vorstellen, wie das wäre, Betty-Lou? Eine Welt ohne Lachen? Das würden wir nicht überleben.«
Als sie das sagte, wurde Mary klar, daß Ms. Fisichelli es fertiggebracht hatte, über fünfunddreißig Jahre in dieser kalten, harten Welt zu überleben, ohne viel mit Humor zu tun gehabt zu haben; wahrscheinlich machte sie einen Bogen darum, und wenn das nicht möglich war, ging sie sozusagen darüber hinweg. Aber das, glaubte Mary, bewies nur die Richtigkeit ihrer Behauptung.
»Na ja«, fuhr sie fort, »jedenfalls würden wir das nicht überleben. Darum hat mich Promi gefragt, ob ich ihm helfen könne, und ich habe ja gesagt. Und so bin ich zu einer Art Gehilfin von ihm geworden und habe für ihn die ganze Kleinarbeit erledigt. Das hat Spaß gemacht, und ich habe es gern getan. Erst einmal hat er mir gezeigt, wie ich mich wieder in einen Menschen verwandeln kann beziehungsweise in verschiedene Menschen. Das ist toll, auch wenn mir einige der Gestalten gehörig auf den Geist gehen, aber egal. Ich muß schließlich nicht mit mir leben.«
Ms. Fisichelli beeindruckte das nicht. »Und weiter?« fragte sie.
»Und dann haben wir diesen Helden aufgestöbert, einen leiblichen Sohn von Jupiter, einen, der tatsächlich die Stirn besaß, sich den Göttern zu widersetzen, im richtigen Augenblick die Ketten durchzutrennen und … Entschuldige, kannst du mir bitte mal die genaue Uhrzeit sagen?«
Ms. Fisichelli hielt Mary das Zifferblatt ihrer Armbanduhr hin.
»Das ist gut«, freute sich Mary, »denn jetzt wird Promi jeden Augenblick freigelassen, und der wird dieser Schluß-mit-dem-Lachen-Kampagne ein für allemal ein Ende bereiten. Und wenn das erst einmal passiert ist, Betty-Lou, dann gibt es richtigen Ärger.«
»Das befürchte ich auch«, merkte die Pythia loyal an.
»Für die Götter, meine ich.« Mary zuckte die Achseln. »Ich persönlich verstehe nicht, worum sich Promi Sorgen macht«, fuhr sie fort. »Wenn du mich fragst, müssen die sich auf was gefaßt machen. Aber er sagt, nein, das seien nun mal Götter, und solange die sich nicht zu sehr einmischen, brauche man sie einfach. Wen, hat er gesagt, könne man denn ohne Götter für alles verantwortlich machen? Er will sie beschützen.«
»Beschützen?« staunte Betty-Lou. »Wovor?«
»Hauptsächlich vor ihnen selbst«, antwortete Mary. »Genau in diesem Moment halten sie nämlich eine Vorstandssitzung ab. Hast du auch nur die leiseste Ahnung, was das
Weitere Kostenlose Bücher