Liebling der Götter
haben. [2]
Stellen Sie sich einen Stier vor, nichts anderes als einen ganz gewöhnlichen Stier. Dann streichen Sie ihn mit goldener Farbe an. Jetzt entfernen Sie den Kopf – dieser Stier ist von uns zuvor eigens für diese Bastelstunde hinreichend präpariert worden –, und fügen Sie den Kopf eines Löwen hinzu. Unter Zuhilfenahme von langen Pinzetten reißen Sie die Haare aus der Löwenmähne heraus und ersetzen diese durch etwa zwei Meter lange zischende Giftschlangen. Falls Sie gerade keine Giftschlangen erübrigen können, kneifen Sie dem Stier den Schwanz ab, und stecken Sie ihn dort zusammen mit weiteren abgekniffenen Ochsenschwänzen hinein. Als nächstes entfernen Sie die Hachsen (aber nicht wegwerfen; man kann eine nahrhafte Fleischbrühe daraus kochen), und ersetzen Sie diese durch die Krallen eines Greifs. Falls Ihnen kein Greif zur Verfügung steht, tut es auch ein gewöhnliches Flügelroß. Zu guter Letzt verzieren Sie das Ganze mit den Flügeln eines Drachen. Und jetzt laufen Sie weg, und zwar schnell.
Die erymanthische Hydra ist ein entsetzlicher Plagegeist. Sie frißt Menschen und Autos, ja sogar komplette Verschiebebahnhöfe. Sie gibt mitten in der Nacht beunruhigende, jaulende Laute von sich und war lange Zeit dafür bekannt, mit ihren kalchedonischen Krallen Mülltüten zu zerreißen.
Als sie Jason auf sich zukommen sah, kicherte die Hydra leise, hob den gräßlichen Kopf, fuhr sich rasch mit einem Kamm durch die Giftschlangen und sprang hinter einem Felsen hervor.
»Guten Tag, mein Junge«, zischte sie Jason an, »ich bin die erymanthische … autsch!«
Jason steckte sein Schwert in die Scheide zurück, hob den abgetrennten Kopf an dessen noch immer zischenden Locken hoch und sah sich nach einer Mülltonne um.
Demeter, Exgöttin des Ackerbaus, machte es sich auf dem Kissen bequem, auf dem noch bis vor kurzem Vulcanus gesessen hatte, putzte sich die Nase und warf einen Blick auf die Erde.
»Wie kommt er klar?« erkundigte sie sich.
Apollo blickte sich zu ihr um, lehnte das Angebot eines Stücks der frischgebackenen Obsttorte ab und antwortete stirnrunzelnd: »Schwierig zu sagen, da ich nicht weiß, was er als nächstes tun muß.«
Demeter zog eine ihrer perfekt zurechtgezupften Augenbrauen hoch und nahm den Spielbogen in die Hand, auf dem die Anweisungen festgehalten wurden. »Ist doch ganz einfach«, sagte sie und las laut vor: »Besuch des Königreichs von Kolchis und Durchquerung des Kaukasus. Trifft Hexe (2), muß das Schicksal suchen (6), erschlägt erymanthische Hydra (10) …«
»Ja, ja, schon gut«, unterbrach Apollo sie ungeduldig, »aber was muß er zum Schluß machen?«
»Warte, ich hab’s gleich«, antwortete Demeter, wobei sie mit dem Zeigefinger über den Bogen nach unten fuhr. »Thessalische Zentauren … erlangt das Goldene Vlies zurück (2000 Punkte; neues Spiel). Wohin ist er gerade unterwegs?«
»Das ist es ja gerade«, sorgte sich Apollo. »Siehst du? Er geht den falschen Weg.«
Demeter blickte sofort vom Spielbogen auf. »Was ist los?«
»Er geht den falschen Weg«, wiederholte Apollo. »Sieh doch selbst.«
»Das kann doch nicht wahr sein!«
»Und ob«, versicherte ihr Apollo. »Da, guck’s dir an.«
Die beiden Götter konzentrierten ihren Blick auf die Erde und machten eine Felsnase im Kaukasus ausfindig. Auf einem niedrigen Felsvorsprung stand eine Gruppe schwerbewaffneter thessalischer Zentauren, von denen die meisten mißmutig die Arme verschränkt hielten. Einige klopften ungeduldig mit den Hufen. Ihr Anführer hatte es bereits aufgegeben, auf die Uhr zu schauen, und schüttelte sie gerade kräftig, um festzustellen, ob sie kaputt war.
»Wahrscheinlich hat er sich verspätet, oder was meinst du?« vermutete Demeter; um Getreide zum Wachsen zu bringen, bedarf es keiner großen intellektuellen Fähigkeiten.
»Nicht nur das«, antwortete Apollo. »Er hat sie völlig verfehlt.«
Die beiden Gottheiten blickten sich an.
»Vielleicht ist er aber auch nur ein Schißhase«, schlug Demeter vor.
Apollo blickte auf die Stelle des Berghangs, wo das Blut der erymanthischen Hydra gerade einen Krater in den lebenden Fels gebrannt hatte, und antwortete: »Nein, daran liegt es bestimmt nicht. Es scheint ganz so zu sein, als wenn er sich … nun ja, als wenn er ganz woanders hingeht.«
Diesmal zog Demeter beide Augenbrauen hoch. »Aber das ist doch völlig unmöglich!« empörte sie sich.
»Nun, zumindest wäre das ganz schön stümperhaft«, meinte
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