Liebling der Götter
der Stolz; bei Ödipus die Neugier; bei Hamlet die Unentschlossenheit; bei Lothar Matthäus der Hang, den Mund aufzumachen, anstatt Fußball zu spielen – jeder Held ist absichtlich mit einem Unterbrecher ausgestattet worden, der bei ihm verhindert, daß bei den Zündkerzen der letzte Funkenüberschlag von der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit stattfinden kann. Natürlich bildet Jason diesbezüglich keine Ausnahme.
»Mum …«, sagte er.
»Jason! Was sucht eigentlich dieser Hund in meiner Küche?« empörte sich seine Mutter.
Die Frage »Welcher Hund?« blieb Jason im Hals stecken. »Ach, der … Das ist Zerberus.«
»Raus!«
»Aber Mum …«
»Raus!«
»Aber Mum …«
»Raus!«
Jason bekam den Hund an einem Ohr zu fassen und führte ihn mit grimmiger Miene in die Garage.
»Braver Hund«, sagte er schuldbewußt. »Platz!«
Zerberus warf ihm einen dreifachen Blick zu, der genau das widerspiegelte, was Jason in diesem Moment selbst dachte, bis hin zu den drei Auslassungspunkten. Jason fiel nichts Besseres ein, als mit den Achseln zu zucken und unendlich blöde dreinzublicken.
»Ich weiß ja, aber was soll ich tun?«
Er schloß das Garagentor hinter sich, verriegelte es und kehrte ins Haus zurück, wobei er das mehrtönige Winseln und die kratzenden Geräusche zu überhören versuchte.
»Mir macht es wirklich nichts aus, wenn du diese Viecher tot mitbringst, Jason. Lebendig ist das aber eine ganz andere Sache. Als erstes bringst du den Köter morgen früh ins Tierheim.«
Jason hätte jetzt wieder einmal »Aber Mum …«, sagen können, doch hatte er das unbestimmte Gefühl, daß die Wirkung allmählich verpufft war. Deshalb versuchte er es nun mit Schmollen. Seine in achtzehn Jahren gesammelte Erfahrung verriet ihm zwar, daß das nicht funktionierte, aber was sollte er sonst tun? Schließlich war es Edison mit der Kohlefadenglühlampe ähnlich ergangen.
»Schön«, freute sich seine Mutter. »Und da wir dieses leidige Thema jetzt endlich erledigt haben, kriegst du auch einen Keks. Ich habe Schokoladenplätzchen gebacken, die magst du doch so gern.«
Jason nickte resigniert. Ja, er mochte Schokoladenplätzchen und pflegte zu tun, was man ihm sagte. Schade um die Menschheit, aber wer will schon behaupten, daß das Leben gerecht ist?
»Etwas anderes«, fuhr Mrs. Derry fort, während sie wieder nach Leibeskräften Teig knetete. »Sharon kommt morgen zum Abendessen vorbei, also bleib nicht zu lange weg.«
»Mum …«
Seit Erschaffung der Menschen haben Mütter gelernt, etwaige Einwände ihres aufmüpfigen Nachwuchses am besten dadurch zu ersticken, indem man ihm Kekse in den Mund stopft. Niemand, nicht einmal Lenin, kann erfolgreich zur Rebellion aufrufen, wenn er den Mund voller Schokoladenkekse hat.
»Jedenfalls bist du morgen abend um punkt halb sieben zu Hause«, ermahnte Mrs. Derry ihren Sohn. »Ich werde Lamm mit Perlgraupen kochen. Das ist doch eins von deinen Leibgerichten, nicht wahr?«
»Ja, Mum.« Plötzlich schossen Jason wirre Gedanken durch den Kopf. Sie schienen ihn daran erinnern zu wollen, daß er in die Londoner U-Bahn eingestiegen war, sich mit jemandem gegen Jupiter verschworen hatte, zwei Götter zusammengeschlagen und zu guter Letzt fünfzig Höllenkrieger zermalmt hatte. Oder etwa nicht? Auf einmal wurde ihm klar, daß einem das Gedächtnis manchmal merkwürdige Streiche spielen kann und er sich höchstwahrscheinlich alles nur eingebildet hatte.
»Gute Nacht, Mum«, murmelte er.
»Und vergiß nicht, dir die Zähne zu putzen.«
»Ja, Mum.«
»Gute Nacht, Jason.«
»Nacht, Mum.«
Als er sein Zimmer betrat, mußte er feststellen, daß sämtliche Mars-Poster verschwunden waren und zudem irgend jemand – wahrscheinlich der Fiskus – dortgewesen war, der seine gesamten persönlichen Unterlagen beschlagnahmt hatte. Einige davon entdeckte er später in einem großen Karton auf dem Kleiderschrank wieder und den Rest am nächsten Morgen ordentlich verpackt in schwarzen Mülltüten vor der Hintertür.
Selbst wenn Jason es gewußt hätte, wäre es ihm nur ein schwacher Trost gewesen, daß Herkules mit seiner Frau ähnlich gelagerte Schwierigkeiten gehabt hatte. Nach Vollendung der ›zwölf Arbeiten‹ mußte er nämlich gleich bei seiner Rückkehr feststellen, daß Megara während seiner Abwesenheit die Hälfte seiner Kleidungsstücke einer Altkleidersammlung vermacht, ein weiteres Viertel auf den Dachboden verfrachtet und das verbleibende Viertel gewaschen und gebügelt hatte,
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