Liebling, Ich Kann Auch Anders
er bei ihr der Erste war. Das hatte ihn tief beeindruckt, denn es war das einzige Mal, dass ihm dergleichen widerfuhr.
Nach dem Kammerkonzert, bei dem er für einen Kollegen eingesprungen war, hatten sie alle noch ausgiebig gefeiert. Und weil Isolde sich über ihr übles Einzelzimmer beklagte, das direkt neben dem Aufzug lag, hatte er sie in sein Doppelzimmer eingeladen. Am Morgen, als er erwachte, sei sie allerdings weg gewesen. Und als er an der Rezeption nachfragte, erfuhr er, sie sei bereits abgereist. Auch das war neu! Bislang hatte sein Problem eher darin bestanden, dass die Frauen an ihm festhielten. In der Folgezeit gab er sich alle Mühe, Isolde Deyke so oft wie möglich über den Weg zu laufen, doch sie ließ ihn links liegen. Wegen all dieser speziellen Umstände hatte er sie aber nie vergessen und erkannte sie dann prompt in mir wieder. Wir ersparten uns den Gentest und ich ersparte meiner Mutter die Enthüllung. Mein Vater und ich verstehen uns blendend. Wolfgang ist ein richtig guter Typ, dessen ich mich nicht zu schämen brauche. Er betreibt, nach Jahrzehnten als Orchestermusiker, mit einem Freund eine Kulturkneipe in Nürnberg, und wir sehen uns in unregelmäßigen Abständen. Seine Frau, mit der er leider keinen Nachwuchs hat, möchte er allerdings nicht mit einem Geständnis verwirren. Und so pflegen wir unser Geheimnis wie einen wertvollen Schatz.
Ich habe mir seither oft überlegt, wie mein Leben sich mit Vater entwickelt hätte. Aber so wie ich die Kompatibilität meiner Eltern einschätze, wäre ich dann vermutlich als Scheidungswaise aufgewachsen. Für ein kleines Kind ist aber ein unbekannter glorifizierter toter Papi sicher besser zu ertragen als die Abwesenheit eines bekannten und die Animositäten von dessen Exfrau.
Eva fuhr mit der Analyse ihres Marcel-Konflikts fort: »Ich denke, ich muss da jetzt durch, um mich mit Marcels Hilfe selbst zu befreien. Sehen wir es doch so: Er hat ein Mutterproblem und ich hab ein Vaterproblem. Wir könnten uns doch bestens ergänzen.«
Manche Leute legen sich auf Teufel komm raus ihre Argumente zurecht, wenn sie ihren Kopf durchsetzen wollen. Jedenfalls war Eva momentan mit Vernunft wohl kaum beizukommen. Alles, was wir für sie tun konnten, war zuzuhören und den Fall verständnisvoll zu begleiten.
Am liebsten hätte ich sie ja entführt, dem Dunstkreis dieses Chaoten entzogen, auf irgendeinen hohen Berg geschleppt – weit weg vom Internet! Da hätte sie dann bei gesunder Luft und einfacher Kost im Angesicht der Naturgewalten die Popligkeit ihrer Auseinandersetzung mit diesem Psychopathen erkannt.
Aber das ging nicht. Denn ich war ganz fest in die Arbeit mit und für Beni eingebunden. So lauschte ich denn geduldig und mit schlechtem Gewissen ihren Berichten, die immer wieder neue Schattierungen des Hickhacks mit Marcel beinhalteten.
Eines Abends, schließlich, als sie sich außerstande sah, seinen Sarkasmus noch länger zu ertragen, schrieb sie ihm einen gefühlvollen Brief, in dem sie all ihren Kummer in Worte fasste.
Zur Antwort bekam sie eine Mail, die sie zu Tränen rührte. Marcel schrieb mitfühlend, betroffen und sehr liebevoll. Er bat sie um Verzeihung dafür, dass er die Dinge nur aus seiner persönlichen Perspektive betrachtet habe. Aus Sorge um sie und dem Verlangen, sie und sich selbst vor seinen Fehlern zu schützen, sei ihm nicht bewusst gewesen, was er damit bei ihr auslöste.
Damit läutete er ein neues, ein goldenes Zeitalter ein. Adieu, du Tal der Düsternis! Einer dürstenden Steppe gleich, auf die just ein Wolkenbruch herniedergegangen war, fühlte Eva sich unendlich erleichtert und getröstet.
Tags darauf kam eine weitere Mail, in der er gegen seine Brust schlug, sich als gedankenlosen Toren bezeichnet und sie erneut um Verzeihung bat. Der letzte Absatz erfüllte sie mit Freude und Erregung: ›Und noch ein Wunsch (mein Egoist kommt wieder durch): Wenn du magst und es noch eine Freude für dich ist, lass uns ein Treffen vereinbaren. Wenn du Zeit hast und einen Ort kennst, den du magst … Ein paar Freudentränen möchte ich dir gern entlocken als kleinen Ausgleich für den Gefühlszirkus virtuosus, den ich dir so eigensinnig zugemutet habe. Ich umarme und verehre dich! All my love – dein Magnus.‹
Magnus. Magnus! – Eva war selig.
Wie schon gesagt: Ein guter Trick, die Leute so kurz zu halten, dass sie schon über Selbstverständlichkeiten in Ekstase geraten. Magnus ist also sein richtiger Vorname. Magnus –
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