Liebling, Ich Kann Auch Anders
einmal zwei Wochen steckte sie trotz aller guten Vorsätze wieder tief in der Geschichte drin. Marcels Mails beeinflussten ihre Stimmung und bewegten ihren Geist von früh bis spät. Ihr Stimmungsbarometer schnellte hoch, wenn sie seinen Namen fett gedruckt im Postfach erblickte, doch die Lektüre enttäuschte oder verletzte sie häufig, weil sie Wärme und Zärtlichkeit vermisste. Immer wieder hinterfragte er die Thesen ihrer Glossen – er besaß offenbar eine ganze Sammlung davon –, focht sie an und warf ihr vor, ihre Vorstellungen über Beziehung und Partnerschaft seien erschreckend rückständig. Da die Frauen ohnehin alle Hebel bewegten und den Männern in allem überlegen seien, so seine Lieblingsthese, täten sie gut daran, die Männer nur zu gewissen Zwecken zu benutzen und ihnen dann wieder den Laufpass zu geben. Im Klartext: Kopuliert mit uns und lasst uns ziehen! Evas sonst recht zuverlässig präsenter Humor hatte sich auf erschreckende Weise verflüchtigt. Sie registrierte es selbst betrübt, war aber nicht in der Lage, Marcels lässig hingeworfene bissige Ironie mit gleicher Münze heimzuzahlen. Seine Forderung, Männer nur als Gebrauchsutensilien zu betrachten, hätte sie unter normalen Umständen amüsiert und freche Erwiderungen provoziert. Nun aber fehlte ihr die nötige Distanz, weil sie sich missverstanden und gekränkt fühlte.
»Der Typ ist absolut neurotisch«, sagte ich, als ich wieder einmal mitbekam, wie sie sich mit Fragen zu ihrer eigenen Unvollkommenheit quälte. »Ein Paranoiker mit Minderwertigkeits- und vermutlich noch ein paar anderen Komplexen. Mensch Eva, seine Masche funktioniert bei dir auch bloß deshalb, weil du dieses verdammte Muster gewohnt bist – von deinem stets abwesenden Vater, der dich konsequent über seine Zuneigung im Zweifel gelassen hat. Diese Spur ist so tief gefurcht wie ein Waldweg, über den nach vier Wochen Regen ein schwerer Traktor gerumpelt ist.«
Sie gestand, ich sähe das wohl richtig und sie müsste sich vielleicht einer Therapie unterziehen. Im Moment hoffte sie allerdings noch, das Problem selbst in den Griff zu bekommen. Wo sie doch die Wurzel kannte und die Zusammenhänge begriff!
»Möglicherweise suche ich ja in der Auseinandersetzung mit Marcel den klärenden Dialog, den der Tod meines Vaters vereitelt hat …«
Tja, in Sachen Vater befinde ich mich ja in einer speziellen Situation. Jedenfalls habe ich keinen Vaterschaden, da es in meinem Leben, bis ich vierundzwanzig war, keinen greifbaren Vater gab. Dafür ist mein Mutterschaden voll ausgereift …
In meinem kindlichen Bewusstsein existierte mein Vater als Toter mit Glorienschein. Meine Mutter sprach über ihn stets in Märchentanten-Manier und krönte ihre Erzählungen jeweils mit der traurigen Aussage, er sei kurz vor der Hochzeit bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen. Deswegen gab es auch kein Grab. Natürlich wurde mir schon relativ früh klar, dass an der Geschichte etwas faul war, aber ich wagte nicht, meine Mutter mit bohrenden Fragen zu belästigen.
Vor acht Jahren an einem warmen Sommernachmittag, saß ich bei einem Cappuccino im Café Tambosi am Hofgarten. Bei schönem Wetter fühle ich mich in dem großzügigen Gartencafé mitten in der Stadt ausgesprochen wohl. Je nach Verlangen kann ich dort Leute beobachten oder relativ ungestört lesen. Diesmal warf ich einen Blick in einen Roman, den ich eventuell übersetzen wollte. Eine Bekannte hatte mir die Gesellschaftssatire von ihrer USA-Reise mitgebracht und als Geheimtipp angepriesen.
Plötzlich trat ein sympathisch wirkender Mann in mittleren Jahren an meinen Tisch und fragte, ob er sich zu mir setzen dürfe. Ich bejahte, wechselte ein paar höfliche Sätze mit ihm und widmete mich dann wieder meiner Lektüre. Plötzlich räusperte sich der Fremde und gestand, er habe sich zu mir gesetzt, weil ich ihn in verblüffender Weise an eine Bekannte aus seiner Jugend erinnerte. Wir unterhielten uns eine Weile und es stellte sich heraus, dass er tatsächlich meine Mutter gekannt hatte. Wie elektrisiert spürte ich plötzlich, dass ich einer ganz heißen Sache auf der Spur war. Während der Mensch aus alten Zeiten plauderte, fiel mir auf, dass wir dieselbe Augenfarbe und ganz ähnlich geformte Ohren haben. Schließlich stellte ich ihm die entscheidende Frage. Er leugnete nichts, meinte lachend, in den Siebzigerjahren sei es schließlich ziemlich rundgegangen. Aber an Isolde Deyke erinnerte er sich deshalb so genau, weil
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