Lieblingslied: Roman (German Edition)
Die Ärzte versuchten zu lindern, aber schließlich war sie in einer warmen Sommernacht ihrem qualvollen Leiden erlegen.
Das Begräbnis hatte wenige Tage später stattgefunden. Auch mein Vater war aus diesem Anlass gekommen. Es war erst unser drittes Zusammentreffen, nachdem er mich den Großeltern überlassen hatte. Kaum war die Familie vom Friedhof zurückgekehrt, war Großvater plötzlich verschwunden. Allerdings schien das niemanden aus dem Kreis, der sich noch im Haus versammelt hatte, zu beunruhigen. Was war dabei, wenn ein Mann, der nach über dreißig Ehejahren seine Frau beerdigt hatte, ein wenig allein sein wollte? Die Erwachsenen vermuteten, dass er einen Spaziergang machte, um sich zu sammeln. Und damit hatten sie gar nicht so unrecht. Was sie nicht ahnten, war, wohin er gegangen war und auf welche Weise er sich sammelte.
Im herrschaftlichen Backsteinhaus meiner Großeltern in Garibaldi waren, trotz der zahlreichen Gäste, viele Räume ungenutzt. Leider verfügte das Haus nur über zwei Toiletten – eine im Wohntrakt im Parterre und die andere im Badezimmer der Großeltern im ersten Stock. Nach einer überreichen Portion von Tante Ruths Kartoffelauflauf, drei Dosen Kräuterlimonade sowie einem Glas prickelnder Ananasbowle rebellierte mein Magen. Die Toilette im Wohntrakt, die ich zuerst ansteuerte, war zu meinem großen Kummer besetzt, und zwei ältere Damen standen bereits vor der Tür Schlange.
Ich drückte mich unauffällig an ihnen vorbei und ging in den ersten Stock hinauf.
Das Badezimmer neben dem Schlafzimmer meiner Großeltern war für mich eigentlich tabu. Diese Regel war aufgestellt worden, als Großmutter krank wurde und man verhindern wollte, dass ich dort aus und ein ging, während sie ruhte. An jenem Nachmittag allerdings betrachtete ich meine Situation als Notfall. Außerdem war Großmutter tot. Ich drehte leise am Türknauf und öffnete lautlos die Tür. Als ich sah, dass die Luft rein war, schlich ich auf Zehenspitzen durch den großen Raum zur Badezimmertür in der gegenüberliegenden Wand. Ich hatte die Hand bereits nach der Klinke ausgestreckt, als ich dahinter Geräusche hörte und erstarrte.
Hinter der Tür spielte jemand Gitarre und summte eine mir unbekannte, schöne und traurige Melodie. Ich wusste, dass es nur Großvater sein konnte, der da musizierte. Die Melodie allerdings war mir fremd. Während ich dort hinter der Tür stand und lauschte, war mein Magengrimmen sofort verflogen. Mit einem Ohr an der Tür konzentrierte ich mich ausschließlich auf die Gitarrenklänge.
Nach einer Minute siegte meine Neugier. Warum spielt er im Badezimmer? Beobachtete er sich dabei im Spiegel? Das musste ich sehen. Vermutlich wäre es angebracht gewesen, anzuklopfen, bevor man ein Badezimmer betrat, in dem sich bereits ein anderer aufhielt. Allerdings musste ich in diesem Fall fürchten, das Gitarrenkonzert damit zu beenden. Lautlos drückte ich daher die Klinke herunter und öffnete die Tür nur so weit, dass ich mit einem Auge hindurchsehen konnte.
Was ich dort sah, werde ich nie vergessen.
Herbert Raymond Bright, das respektable Oberhaupt des Bright-Clans und der einzige niedergelassene Psychologe in Garibaldi, lag ausgestreckt in der Badewanne. Er trug noch immer seine schwarzen Lederschuhe und den schwarzen Beerdigungsanzug. Das Hemd allerdings hing lose über der Hose, und die Krawatte war gelockert. Wasser konnte ich in der Badewanne nicht erkennen – nur einen Mann um die fünfzig und eine Gitarre, die ebenso alt aussah wie er. Mit geschlossenen Augen, den Kopf gegen die kalten Keramikfliesen zurückgelehnt, schien er versonnen zu lächeln, während er vor sich hinsummte und die Saiten der Gitarre zupfte. Plötzlich ging das Summen in Worte über.
Es war unschwer zu erraten, dass der Song von Großmutter handelte.
They tell me that you’re gone
But I know it won’t be long,
Until I hold you once more,
And we finish the stor-y … of love.
Sie sagen, du bist gegangen,
doch ich weiß, es ist nicht lange,
bis ich dich wieder in den Armen halte
und wir die Stor-y der Liebe beenden.
Eine Stimme in mir ermahnte mich, umzukehren und zu verschwinden. Ich hätte auf sie hören sollen. Selbst mit meinen sieben Jahren wusste ich, dass ich das alles nicht hören – oder sehen – sollte, was sich im Badezimmer des Hausherrn abspielte. Doch obwohl ein lautloser Rückzug das Richtige gewesen wäre, blieb ich wie angewurzelt stehen. Großvaters Gesang und sein Spiel waren seltsam
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