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Lieblingslied: Roman (German Edition)

Lieblingslied: Roman (German Edition)

Titel: Lieblingslied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K.A. Milne
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tröstlich und fesselnd zugleich. Ich hatte Großvater beobachtete, als sie Großmutters Sarg in die Grube versenkt hatten. Er hatte müde und unendlich traurig ausgesehen, so als habe er alles verloren, was ihm lieb war. Aber jetzt? Er wirkte zufrieden mit sich und der Welt. Daran bestand kein Zweifel.
    Dann brach der Text abrupt ab, die Worte gingen erneut in Summen über. Ich beobachtete Großvater weiter, registrierte jeden seiner Griffe auf der Gitarre aufmerksam. Er sang weiter, und seine Worte flossen wie von selbst in dieselbe, melancholische Melodie ein.
    Last I checked the door was closed,
    But now I see a little nose,
    Just poking through.
    Ethan, is that you?
    Letztens, als ich hinsah, war sie zu, die Tür,
    jetzt erkenne ich eine kleine Nase dafür,
    die schaut mir zu.
    Ethan, bist das du?
    Als bei mir der Groschen fiel, und ich merkte, dass Großvater in seinem Lied meinen Namen nannte, schlug er schon die Augen auf. Er richtete sich in der Badewanne auf. Mit breitem Grinsen starrte er durch den Türspalt in meine Richtung. Er hatte mich kalt erwischt. In dem Bewusstsein, ertappt worden zu sein, schnappte ich nach Luft, wirbelte herum und lief davon.
    »Ethan!«, rief er, bevor ich noch die Schlafzimmertür erreichen konnte.
    Ich hörte, wie der Gitarrenkörper mit dumpfem Knall gegen die Badewanne schlug.
    »Alles in Ordnung!«, fuhr er fort. »Geh nicht! Komm zurück!«
    Ich blieb auf der Türschwelle zum Korridor stehen und wartete, was er zu sagen hatte.
    »Bitte, Ethan! Es macht mir nichts aus, dass du mich spielen gehört hast. Ich habe gern Publikum.«
    Nachdem ich kurz überlegt hatte, welche Optionen ich hatte, schlich ich auf Zehenspitzen zurück zur Badezimmertür, die gerade so weit offen geblieben war, dass ich hindurchsehen konnte. Dann spähte ich erneut durch den Spalt und atmete laut durch die Nase aus, um zu signalisieren, dass ich zurückgekommen war.
    »Hallo, du«, sagte Großvater augenzwinkernd. »Komm ruhig rein. Ich beiße nicht.« Er rückte seine Brille zurecht, neigte seinen Kopf mit dem grauen Haar leicht zur Seite und lächelte liebevoll. »Ich zwicke und kitzle dich zwar manchmal, aber ich beiße nicht. Definitiv nicht.«
    Ich steckte meine Nase tiefer in den Spalt und die Tür schwang weiter auf. »Ich muss auf die Toilette.«
    »Ah, verstehe! Ich komme gleich aus der Wanne. Dann bist du ungestört.« Er griff nach der Gitarre und stand auf.
    Ich stieß die Tür gerade so weit auf, dass mein Gesicht durch die Öffnung passte. »Ich muss gar nicht mehr. Ist vergangen, als ich dir zugehört habe.«
    Großvater lachte. »Armer Junge. Da nehme ich das Badezimmer in Beschlag, und du stehst da draußen, still wie eine Kirchenmaus und hast ein dringendes Bedürfnis.« Er kam auf mich zu, die Gitarre in der Hand, und umarmte mich kurz. »Mach schon, Ethan. Geh auf die Toilette. Ich warte so lange im Schlafzimmer.« Er schob mich in Richtung Toilette und schloss die Badezimmertür hinter sich.
    Als ich zurückkam, saß Großvater auf seinem Bett, den Rücken gegen das Kopfende gelehnt und summte noch immer die Melodie, die ich zuvor gehört hatte.
    »Dein neuer Song gefällt mir«, bemerkte ich.
    Er nickte. »Habe ihn mir heute ausgedacht. Nachdem wir zurückgekommen waren.«
    »Handelt er von Großmutter?«
    »Ja. Musik wirkt Wunder. Ist jedenfalls einen Versuch wert.«
    »Wunder?«
    »Habe ich dir nie gesagt, dass Musik magische Kräfte hat? Wirklich, Ethan. Musik kann wunderbare Dinge bewirken. Wie nichts anderes auf der Welt.«
    »Zum Beispiel?«
    »Nimm zum Beispiel deine Großmutter. Ich vermisse sie wahnsinnig, und sie wird mir immer fehlen. Nach allem, was sie ertragen musste! Der Gedanke bringt mich um. Aber wenn ich spiele und singe, dann beruhigt das meine Seele, und ich habe das Gefühl, es wird alles gut, und ich kann eines Tages wieder mit ihr zusammen sein. Die Musik verbindet uns.« Er atmete langsam aus, legte die Hand auf meine Schulter, lächelte und fügte hinzu: »Die Erfahrungen eines langen Lebens – manche gut, manche verdammt unerfreulich – haben mir gezeigt, dass die richtigen Worte, mit der richtigen Musik, zum richtigen Zeitpunkt die Wunden der Seele heilen können wie sonst nichts auf der Welt. Kommt dir das nicht auch wie Zauber vor?«
    Ich nickte eifrig. »Ich möchte ein Zauberer werden – einer wie du Großvater.«
    Da ich nicht schlafen konnte, schlug ich die Bettdecke zurück und stand auf. Im Mondlicht, das durchs Fenster fiel, tastete ich

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