Lieblingsmomente: Roman
ins Wohnzimmer führen, aber ich bleibe stehen und zwinge ihn, es mir gleichzutun. Langsam dreht er sich zu mir.
»Tristan.«
Er weicht meinem Blick aus, aber ich muss es wissen, und er weiß, dass ich es wissen will. Es gibt keinen guten Zeitpunkt, es gibt nur schlechte. Dieser hier ist genauso mies wie alle anderen.
»Helen …«
Aber er schüttelt nur langsam den Kopf, und ich verstumme, sobald ich ihn ansehe. Ich muss nicht fragen, ich kann die Antwort an seinen Augen ablesen. Ich kenne diese Traurigkeit in seinem Blick, die noch keine Trauer ist. Das ist es also. Wann immer er so unendlich alleine wirkte, selbst unter Menschen. So sieht nur jemand aus, der den Verlust eines geliebten Menschen nicht überwunden hat. Ich schließe meine Hand fester um seine und halte sie. Erleichtert stelle ich fest, er weist mich nicht zurück.
Er holt so tief Luft, als wolle er den Ärmelkanal in einem Stück durchtauchen, und ich habe Angst vor dem, was er mir sagen will.
»So was Dummes.«
Ich verstehe nicht, halte nur seine Hand und sehe ihn an. Ich will weinen und weiß noch nicht so genau weswegen.
»Sie war immer so viel unterwegs, viele Termine.«
Seine Stimme klingt belegt, und ich weiß, einer von uns beiden wird gleich weinen, wenn nicht sogar beide. Seine Hand in meiner fühlt sich leblos an, kalt und müde.
»Autobahn, nachts um drei Uhr, noch schnell zu einem anderen Termin. Sie hat immer gesagt, es sei wie ein Leben auf der Überholspur. Ich habe mir immer Sorgen gemacht. Sie sollte mich anrufen, egal um welche Uhrzeit, egal wo. Mein Handy hatte ich immer dabei.«
Ich fürchte, ich weiß schon, wie die Geschichte ausgeht.
»Sie war eine sehr gute Autofahrerin. Selbst wenn sie schnell gefahren ist, und sie ist schnell gefahren. Schneller als ich. Aber ohne Stress. Ich habe immer gesagt: Fahr langsam, schnall dich an. Pass auf uns auf!«
»Uns?«
Er nickt, und ich sehe, wie glasig seine Augen sind.
»Sie war ein Teil von mir. Sie hat mich irgendwie immer dabeigehabt. Und dann fährt sie eines Tages mit dem Fahrrad zum Supermarkt.«
Er sieht an mir vorbei, und ich weiß, er wünscht, dass sie hinter mir auftauchen würde, dass sie ihn umarmt und zurückholt, was sie mitgenommen hat. Den Teil von ihm, der offenbar mit ihr gegangen ist.
»Ich habe mir keine Sorgen gemacht. Was sollte schon passieren? Sie war ja nicht mit dem Auto weg.«
Seine Hand zuckt kurz in meiner.
»Aber sie ist nicht zurückgekommen.«
Er muss es nicht aussprechen. Ich verstehe es auch so. Sie ist nicht zurückgekommen und wird es auch nie wieder. Sie wird ihn nicht anrufen, ihm keinen Brief schreiben, keinen lustigen Kommentar bei Facebook hinterlassen oder Auf Wiedersehen sagen, wie es sich gehört, wenn man eine so lange Reise antritt. Sie kommt einfach nicht mehr zurück, und wenn ich mich in dieser Wohnung umschaue, dann wartet Tristan noch immer darauf, dass sie eines Tages durch die Tür kommt, als wäre nichts gewesen.
Obwohl ich Helen nicht gekannt habe, berührt es mich in meinem Inneren und ich spüre die Tränen, die ich hastig und peinlich berührt wegwischen will. Tristan sieht zu mir und legt seine andere Hand an meine Wange.
»Seitdem bin ich so.«
Ich will fragen, wann es passiert ist. Ich will fragen, was er mit »so« meint. Ich will so viel wissen, aber ich kriege meinen Mund nicht auf. Also muss er reden. Was ihm viel schwerer fällt als alles andere.
»Ein Teil von mir ist weg. Ich habe nicht mehr Gitarre gespielt, ich habe nichts mehr geschrieben, keine Frau war mir nahe. Ich war nicht mehr …«
Er bricht ab und weicht meinem Blick aus. Ich kann mir nur vorstellen, wie schmerzhaft es sein muss, und erst jetzt verstehe ich, wie weh ihm meine Fotos getan haben müssen. Ich halte seine Hand so fest in meiner, als könnte ich ihm den Halt geben, den er braucht. Wir wissen beide, dass ich das nicht kann. Zu deutlich klingen seine Worte in meinem Kopf nach. Sie ist perfekt. Was genau mache ich hier? Ich habe keinen Platz, und ich kann es weder meinem Herzen noch meinem Ego zumuten, mich weiterhin mit der unerreichbaren, perfekten toten Freundin zu messen. Mir bleibt eigentlich nur noch eines: Ich nehme Tristans Gesicht in meine Hände und zwinge ihn, mich wieder anzusehen.
»Hör zu, Tristan. Du bist ein so wunderbarer Mensch. Seit ich dich getroffen habe, mache ich eine Menge durch, weißt du? Ich fahre emotionales Kettenkarussell, und manchmal ist mir kotzübel. Aber es ist immer wunderschön, in
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