Lieblingsmomente: Roman
deiner Nähe zu sein. Wenn ich dich früher oder vielleicht später kennengelernt hätte … Aber jetzt ist einfach nicht der richtige Moment für uns.«
Er nickt müde, und es bricht mir das Herz. Wenn ich jetzt gehe, ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir je wieder so nah zusammenstehen, gleich null. Er wird gehen, um Helen loszulassen und sich selbst zu finden, und dabei die Wege vieler toller Frauen kreuzen und mich vergessen. Ich könnte mir stolz auf die Fahnen schreiben, hier und jetzt das Richtige zu tun, aber alles in allem tut es einfach nur weh, ihn gehen lassen zu müssen. Ich möchte ihn küssen, und vielleicht will ein winzig kleiner Teil von ihm auch mich küssen, aber ein viel größerer Teil möchte Helen küssen. Und das würde ich nicht ertragen. Also ziehe ich ihn in eine Umarmung und drücke ihn an mich, so fest ich kann. Ich spüre sein Herz, wie es gegen meine Brust schlägt, spüre die Wärme seines Körpers so nah und hoffe, dieses Gefühl nie mehr zu vergessen.
»Ich wünsche dir viel Glück, Tristan Wolf.«
Dann tue ich das einzig Richtige und gehe.
Gerne würde ich an dieser Stelle sehr tiefgründig und dramatisch etwas sagen, wie zum Beispiel: »Ich habe Tristan nie wiedergesehen.« Oder: »Es vergingen Jahre, bis sich unsere Wege wieder kreuzten.« Aber das wäre Blödsinn.
Es hat nicht mal drei Tage gedauert, es war sicherlich nicht geplant, und es war ganz sicher nicht so, wie ich es mir vorstellt habe. Aber wenn man sich im Leben die Situationen und Begebenheiten einfach aussuchen könnte, dann wäre alles einfach und geradlinig. Wenn ich aber etwas gelernt habe, dann das: Das Leben ist alles andere als geradlinig.
Wir sind chic essen. Oliver schiebt meinen Stuhl zurecht und sieht mich freudestrahlend an. Seit er aus Hamburg zurückgekommen ist, spricht er nur noch von seinen neuen Erfolgen und davon, wie positiv sich das auf unser Konto auswirken wird, wie viel wir uns plötzlich leisten können, wie viel wir plötzlich erleben können. Er müsse dafür zwar auch öfter weg, aber das sei ja wohl ein kleines Opfer für die große Menge an Geld, die er in Zukunft verdiene.
Ich habe immer nur genickt, gelächelt und alles wie in einer Blase wahrgenommen. Ich habe meine Gefühle abgestellt. Seit Freitagnacht. Oder Samstagmorgen. Seit sich die Welt anders anfühlt. Ich habe nicht mehr nachgedacht, habe sofort einen Auftrag für eine unsägliche Abi-Party am kommenden Wochenende angenommen und meine Fotografien erst mal in den Schrank gesperrt. Träume stehen jetzt nicht mehr so weit oben auf der Tagesordnung.
Es geht mir nicht gut.
Tristan fehlt mir, und obwohl ich das schon einige Male festgestellt habe, werde ich mich an dieses Gefühl nie gewöhnen können. Aber ich tröste mich mit meinem neuen Mantra: Es ist das Richtige, und er wird seinen Weg finden. Ohne ihn bin ich nicht mehr ganz so motiviert, nicht mehr so darauf versessen, meine uralten Träume zu erfüllen. Ich könnte jetzt alle meine widerstrebenden Gefühle analysieren, sie beschreiben und einordnen, aber nicht einmal dazu habe ich noch Kraft. Ich versuche einfach, eine lebende Kühlbox zu werden. Nicht für immer, nur für eine kleine Weile, bis es nicht mehr so wehtut und ich nicht mehr das beklemmende Gefühl habe, sofort losheulen zu müssen, wenn ich an unser letztes Treffen denke.
»Ist das nicht ein tolles Restaurant? Hier war ich ein paar Mal mit meinem Chef. Die haben tollen Wein. Außerdem mag doch jeder italienisches Essen, nicht wahr?«
Er schiebt mir die Speisekarte über den Tisch und strahlt mich erwartungsvoll an. Er wollte, dass wir uns chic machen. Ich hatte gar keine Lust, aber irgendwie ist Olivers gute Laune ansteckend, auch wenn ich mich noch so sehr dagegen wehren möchte.
»Dann bestellen wir uns einen tollen Wein.«
Ich spiele das Spiel mit, und Wein hilft bestimmt, alle meine Fragen, Sorgen und Gedanken in ein kleines Koma zu trinken. Der Name des Restaurants Primafila weckt schmerzende Erinnerungen, also werde ich viel Wein brauchen. Ich kann nur hoffen, dass Tristan heute nicht kellnert, und ich scheine Glück zu haben. Bisher wurden wir nur von einer dunkelhaarigen Schönheit bedient, die uns höflich begrüßt und uns an einen Tisch geführt hat, bevor sie uns mit den Speisekarten alleine gelassen hat.
»Weißt du, wenn alles gut läuft, dann können wir hier bald jede Woche essen gehen.«
Oliver sieht sich in dem Lokal um, als wäre es eine Immobilie, die er kaufen möchte.
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