Lieblingsmomente: Roman
ärgern.«
Ich lausche, wie er zur Haustür geht. Manchmal, wenn ich Glück habe, wirft er mir noch ein »Ich freu mich schon auf heute Abend, Süße« vom Flur aus zu. Heute nicht. Wenn man so lange zusammen ist wie wir, dann sagt man sich nicht mehr bei jeder Gelegenheit, wie sehr man sich liebt und vermisst und wie viel einem der andere bedeutet. Man weiß es einfach. Man fühlt es und muss nicht mehr unsicher sein. Wenn man jemanden so gut kennt, wenn man jemanden so nah an sich herangelassen hat, dass man sein Leben um besagte Person herumgebaut hat, dann muss man nicht mehr um jedes »Ich liebe dich « betteln. Es setzt das alles voraus. Oder? Na, eben.
Ich strecke mich noch einmal im Bett aus, bevor ich mich auf dem Weg ins Badezimmer mache, dabei Olivers Handtuch vom Boden aufhebe und an die Stange zum Trocknen hänge. Er lernt es nie.
Das warme Wasser läuft über meinen Körper, und ich spüre, dass ich wach werde. Morgens brauche ich erst eine Dusche, die den Schlaf und die Reste der Träume von mir spült, bevor ich für einen neuen Tag bereit bin, und während ich mit geschlossenen Augen den Wasserstrahl auf mein Gesicht halte, denke ich plötzlich an die gestrige unerwartete Begegnung mit Tristan. Wie klein mir mein Büro plötzlich vorgekommen ist, mit ihm darin, und ich frage mich, wieso er ausgerechnet das Foto meiner Großmutter angeschaut hat. Er konnte nicht wissen, dass es etwas Besonderes ist. Für mich.
Ich stelle das Wasser ab. Ich kann hier nicht stehen bleiben und nachdenken. Das bringt alles nichts. Außerdem werde ich heute Abend einfach doch zu dem Stammtisch gehen. Als Überraschungsgast. Vielleicht merkt Oliver dann, dass ich gerne mehr Zeit mit ihm verbringen möchte.
Als Erstes öffne ich die Fenster und versuche etwas gegen die Hitze in meinem Büro zu unternehmen. Der Ventilator auf dem Tisch neben dem Drucker tut, was er kann. Nur ist das leider nicht viel. Ich hole mir eine kühle Cola aus dem Kühlschrank in der Miniküchenzeile, schalte meinen Computer an und werfe einen kurzen Blick auf die Fotos an den Wänden. An manchen Tagen fühle ich mich fehl am Platz. Heute ist so ein Tag. Dann denke ich über all die anderen Partyfotografen in Stuttgart nach und ärgere mich über die, die wahrscheinlich gerade mal den Führerschein bestanden haben, sich aber feiern lassen, als hätten sie einen eigenen Galeristen und wären mit einer Fotokamera in der Hand geboren. Vielleicht ärgere ich mich aber auch nur so über sie, weil ich fast schon zum alten Eisen gehöre und hinter meinem Rücken wahrscheinlich sogar belächelt werde. Nicht nur vom Party-Knisper-Nachwuchs, auch von den Gästen. Man muss kein Genie sein, um das zu wissen. Während die meisten Frauen auf diesen Partys in engen und gewagten Outfits ihre Schokoladenseite zum Vorschein bringen und sich von mir fotografieren lassen, um dann voller Stolz die Klicks ihrer Fotos im Internet zu zählen, trage ich das T-Shirt meiner Firma, weil ich mir keine Plakatwände in der Stadt oder flippige Anzeigen in angesagten Magazinen leisten kann. Ich kann mich nur auf mein Talent und das T-Shirt verlassen. Ich trage entweder das schwarze, das pinkfarbene oder das weiße T-Shirt. Sicher, sie sind in einer weiblichen Form geschnitten, aber nichts im Vergleich zu den entzückenden Oberteilen der Damen auf der Tanzfläche. Damit schinde ich rein optisch gesehen natürlich wenig Eindruck. Damit gehe ich unter. Es ist nicht so, dass ich irgendjemanden beeindrucken wollte, wirklich nicht, immerhin will ich ja gar nicht auffallen, um ungestört fotografieren zu können, aber es hilft auch nicht gerade dabei, sich besser zu fühlen. Vielleicht sollte ich wirklich mal wieder andere Fotos schießen, und vielleicht kennt jemand jemanden, der jemanden kennt, der … Blödsinn. Oliver und ich haben viel Geld in diese Firma hier investiert, und jetzt will ich das alles aufs Spiel setzen für einen alten, verwegenen Traum? Wohl kaum. Freischaffender Künstler. In der heutigen Zeit ist das doch Unsinn, beruflicher Suizid.
Mit der Cola in der Hand nehme ich im Wirkungsbereich des Ventilators vor meinem Rechner Platz und checke als Erstes die E-Mails. Wie immer sind es viel zu viele, und die meisten davon könnte ich sofort löschen oder mit einer kurzen Floskel beantworten. Bis auf eine.
Betreff: Re: Re: Erste Hilfe & Dankeschön
Hi Layla,
danke für das Foto. Abgesehen vom Model, das mal wieder eine Rasur gebrauchen könnte, ist das Bild wirklich
Weitere Kostenlose Bücher