Lieblingsmomente: Roman
aber ich fühle diesen kleinen Sturm in meinem Inneren, und wenn ich jetzt das Flattern der Schmetterlinge höre, dann werde ich es tun. Ich zähle ganz langsam von fünf an rückwärts, und bevor ich weiß, was passiert, ist es da. Laut und deutlich. Ich zücke meine Kamera und verlasse den Zeitschriftenladen – natürlich nicht, ohne vorher Tristans Gastroführer bezahlt zu haben. Ich eile durch den Bahnhof, den es so wohl nicht mehr lange geben wird, und laufe in die Stadt.
Ich folge Tristans Worten. Ich kenne mich hier aus, ich habe alles, oder zumindest vieles, schon einmal gesehen, aber diesmal erlebe ich es neu. Ich schlage die erste Seite des Buches auf und stehe nicht mehr in meinem, sondern in Tristans Stuttgart. Ich lasse mich, wieder einmal, von ihm führen, lasse mich treiben. Meine Kamera ist immer bereit, um das zu fotografieren, wovon er schwärmt und träumt. Manchmal ist es ein besonders charmantes Holzschild an der Hausfront eines Cafés oder Restaurants, manchmal ist es eine lustige Baumgruppierung, die eine Geschichte zu erzählen scheint, die mir bisher verborgen geblieben ist. Ich trinke den besten Kaffee der Stadt, in einem Lokal, das er empfohlen hat, an einem der kleinen Tische mit den wackeligen Stühlen, dann bestelle ich eine Pizza zum Mitnehmen in einem Laden, den ich bisher für ein schäbiges Lokal gehalten habe, und bin völlig begeistert von der scheinbar unendlichen Auswahl an Pizzabelag. Ich habe noch nie mit einer solchen Leidenschaft Milchschaum und gegrillte Auberginen fotografiert oder mich in Details einer Eckkneipe verliebt, die mir niemals aufgefallen wären, wenn Tristan sie mir nicht gezeigt hätte. Mehr und mehr Fotos sammeln sich auf meiner Speicherkarte. Es ist wie eine kleine Sucht, und ich eile mit klopfendem Herzen weiter. Ich fotografiere Dinge, die sich nicht zwingend bewegen, die aber plötzlich zu neuem Leben erwacht scheinen, und natürlich entgehen mir auch die Personen in der Umgebung nicht, und der herrliche Sonnenschein. Tristans Worte locken mich von der Stadtmitte hinaus zum Stuttgarter Stadtstrand .Ich überquere auf dem Wilhelma-Steg den Neckar, und schon fühlt es sich hier tatsächlich ein kleines bisschen nach Küste und Strand an, auch wenn des grüne Wasser weder an den Bodensee noch die Karibik erinnert. Ich bestelle mir ein Getränk – Tristan empfiehlt den Cocktail »Stuttgart Sling« –, setze mich in einen der Liegestühle und vergrabe meine Zehen im extra aufgeschütteten Sand. Doch, Tristan hat recht: Mit viel Phantasie könnte man meinen, man wäre an der schwäbischen Riviera. Ich schließe die Augen, bade in der Geräuschkulisse und tauche dann wieder auf. Es fühlt sich gut an, hier zu sein. Ich kann nachdenken, durchatmen und meinem »Hobby« nachgehen. Aber dieses Einfangen von Bildern und Momenten ist so viel mehr als ein einfaches Hobby, nur hat Oliver das nicht verstanden. Vielleicht will er es auch nicht verstehen. Es ist Leidenschaft, es ist Liebe. Es gibt mir mehr, als er es im Moment tut. Ich habe es unterdrückt, weil er mir das Gefühl gegeben hat, es sei klein und unwichtig, nur eine Spielerei. Ich habe mich nicht gewehrt, habe das alles zugelassen. Ich habe zugelassen, dass er mich so weit von meinem Traum entfernt hat, dass ich ihn schon fast vergessen habe. Aber es ist kein blöder Traum, keine schwärmerische Jugendliebe, die mir heute nichts mehr bedeutet. So ein Schwachsinn! Ich liebe es, noch immer und aus tiefstem Herzen. Ich weiß, was ich tue, ich fühle mich sicher, und ich hätte es damals durchziehen können … sollen. Die Party-Knipserei ist nur ein fader Kompromiss, der weder mich noch Oliver glücklich macht.
Erst jetzt merke ich, wie sehr ich es vermisst habe, einfach loszuziehen und die Welt um mich herum auf meine Speicherkarte zu bannen. Und das habe ich im Moment allein Tristan zu verdanken. Seine einfachen, liebevollen Worte über ein windschiefes Holzschild, über schrullige Bäume, eine scheinbar aus der Zeit gefallene Inneneinrichtung, den perfekten Kaffee, über die größte Freiheit, die man bei der Wahl des Pizzabelags jemals haben wird, oder wie jetzt, über diesen Cocktail, und die phantasievolle Vorstellung, ich sei irgendwo am Strand – das weckt in mir den Wunsch zu fotografieren. Tristan liebt Stuttgart und die in seinem Buch beschrieben Orte, und das überträgt sich auf mich, spornt mich an. Seine Worte sind die Inspiration, die mir in letzter Zeit gefehlt hat. Es ist mehr als
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