Lieblingsmomente: Roman
ein Schubser in die richtige Richtung. Es ist ein verführerisches Flüstern, dem man folgen möchte und muss. Es ist eine Spur aus leicht zu entziffernden Geschichten voll tiefer Zuneigung, die ich verschlinge, als würde ich eine geheime, noch nicht gelesene Ausgabe von Harry Potter in den Händen halten. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich mich das letzte Mal so gefühlt habe – so frei und voll Energie.
Und so alleine. Die Erkenntnis trifft mich tiefer, als ich es mir eingestehen möchte.
Ich schaue auf die Uhr und sehe, dass es erst kurz nach drei Uhr ist. Oliver und Holger sind wahrscheinlich gerade dabei, den Steingrill aufzubauen. Ohne mich. Ich habe ihm geglaubt, alles, was er mir zwischen einem Glas Rotwein und einer Runde Schwimmen im See erzählt hat. Alles. Nur leider hat das alles nichts gebracht. Warum sonst nutzt er die erste Gelegenheit, sofort wieder zu verschwinden, sich lieber mit anderen zu treffen, vor mir zu flüchten? Ich weiß es nicht. Ich habe wirklich keine Ahnung.
In diesem Moment der neu gewonnenen Freiheit gestatte ich es mir. Ich erlaube mir, absolut ehrlich zu mir zu sein – hier, an diesem Stadtstrand am anderen Ende des Kessels. Alle Gefühle, die ich ordentlich verdrängt habe, lasse ich ohne Schranken und Zensur aufkommen, ich gebe ihnen endlich wieder eine Stimme.
Ich bin alleine.
Ich bin enttäuscht.
Ich fühle mich ungeliebt.
Ich fühle mich klein.
Ich will mehr.
Ich will wieder fotografieren.
Ich bin verliebt.
Ich horche tief in mein Herz und weiß genau, dass ich Gefühle für Oliver habe, sehr starke sogar, sonst hätte ich nicht mein Leben mit ihm planen wollen, aber meine große Liebe halte ich in diesem Moment in meinen Händen: Es ist diese Kamera, es ist das Gefühl, Dinge für immer festhalten zu können, mich vom Licht und der Atmosphäre verführen zu lassen. Das ist so viel größer in mir, als ich es zulassen will. Weil ich Oliver und seinen alles klein machenden Worten viel zu lange geglaubt habe. Weil er mir nicht das Gefühl zugestehen will oder kann, dass ich losziehen und einfach fotografieren kann und soll und muss. Er ist nicht in der Lage, mir ein ehrliches Feedback zu den Fotos zu geben, weil er nicht sieht, was ich ihm zeigen will. Und das liegt nicht an mir. Endlich habe ich es verstanden.
Es liegt nicht an mir.
Er sieht mich einfach nicht.
Anders als Tristan.
Er versteht mich.
Oliver nicht.
Deshalb kann er mir nicht das Gefühl geben, das Tristan mir gegeben hat. Dieses Gefühl, dass mehr in mir steckt, als ich zulasse, dass ich es wagen kann, weil ich nicht scheitern werde, dass ich das tun kann, was mich glücklich macht.
Wieso muss ich lächeln, wenn ich an Tristan denke? Weil Tristan meine Bilder ansieht und sofort weiß, welche Geschichte sie erzählen, weiß, dass sie mehr sind als nur eine Fotografie. Früher habe ich in jedes Bild meine Seele gelegt, habe mich geöffnet und sie zu einem Teil meiner selbst werden lassen. Und jetzt? Jetzt schäme ich mich fast, wenn ich ein Foto besonders mag. Das Foto, das ich damals von Tristan auf der Open-Air-Party in der Menge geschossen habe, es zeigt so viel mehr. Ich habe es von Anfang an gesehen, wollte es mir aber nicht eingestehen. Oliver hat es nicht bemerkt, aber ich weiß, dass es alles verändert hat. Ich habe Glück gehabt mit dem Licht, keine Frage, aber alles andere, die Magie, die habe ich erschaffen. Und er. Wir beide zusammen. Wir sind ein stilles Abkommen eingegangen, ohne es zu merken, ja, ohne uns zu kennen. Bei den richtig guten Bildern entsteht eine Verbindung zwischen Motiv und Fotograf, auch wenn beide in dem Moment nicht wissen, dass es so ist. Als Oliver das Foto gesehen hat, da fand er es nicht einmal einen Kommentar wert, aber ich sah vom ersten Augenblick an mehr als nur Tristan, der sich leicht gegen die Menge bewegt, die ekstatisch zuckt, während er entspannt in der Mitte steht und in einer anderen Welt zu sein scheint. Ich weiß nicht, woran Tristan in dem Moment wirklich gedacht hat, aber ich habe in seinem Blick Sehnsucht gesehen, meine Sehnsucht, nach einem anderen Ort. Er war irgendwo anders, und als ich das Foto gemacht habe, wusste ich, wohin ich will. Auch wenn es unmöglich scheint. Gerne hätte ich Oliver erklärt, was das Bild wirklich aussagt und wie schade ich es finde, dass er es nicht sieht. Ausgerechnet er, dessen Meinung mir so viel bedeutet. Aber ich konnte es mir damals noch nicht eingestehen, und er hätte es vielleicht nicht
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